Seefracht : Seefracht: "So eine Situation hat bisher noch keiner erlebt"

Container Hafen im Port of Felixstowe
© Port of Felixstowe

Es gibt viele unterschiedliche Gründe dafür, dass sich vor den Häfen die Schiffe stauen, sagt Hapag-Lloyd-Expertin Julia Kühnbaum in einem Interview mit ntv. Man sehe, dass gerade einfach viel mehr Ladung unterwegs ist, der Bedarf an Kapazitäten sei also höher als gewöhnlich. Gleichzeitig gebe es an vielen Terminals Performance-Einbußen – Stichwort Corona. „Hafenarbeiter konnten oft nicht mehr so flexibel eingesetzt werden, es durften auch nicht mehr so viele gleichzeitig miteinander arbeiten. Zum Glück werden die Regeln in den einzelnen Ländern sukzessive gelockert“, so Kühnbaum. Hinzu kämen Krankheits- und Quarantänefälle und letztlich Engpässe beim Abtransport der Container aufgrund von fehlenden Lkw-Fahrern und Zugführern.

Das bestätigt auch eine Dispo-Anfrage nach Gründen für Staus vor Häfen bei Gebrüder Weiss: „Der Ursprung hierfür liegt in den Covid-19-Maßnahmen Anfang 2020 in China. Nachdem die dortige Wirtschaft sich im April wieder etwas erholt und die Produktion wieder hochgefahren hat, kam es zu einer hohen Nachfrage nach Produkten aus China – speziell auf dem US-amerikanischen Markt. Als die Containerschiffe in den USA ankamen, befand sich die USA jedoch noch immer im ‚Corona-Modus‘ – mit Kurzarbeit, Schließungen etc. Dies hatte zur Folge, dass es dort zu einer verzögerten Abfertigung und Staus in den Häfen kam -- auch aktuell liegen noch immer über 70 Schiffe an der Westküste. Im Herbst 2020 zieht dann die Nachfrage zwischen Asien – Europa massiv an. Im März 2021 sorgt die „Ever Given“-Suezblockade erneut für Rückstau. Infolgedessen treffen die Schiffe ‚geballt‘ in den europäischen Häfen ein.“

>> Lesen Sie hier mehr zum Fahrermangel <<

Und Gebrüder Weiss stimmt auch Kühnbaum in Sachen LKW-Fahrermangel zu: „Wie bei einem Domino-Effekt wirken sich die Staus in den Seehäfen auf die Hinterland-Verkehre aus und sorgen für Kapazitätsengpässe bei Bahn- und Lkw-Transporten. Die Situation verschärft sich weiter durch den Fahrermangel, der durch Corona-Maßnahmen in verschiedenen Ländern temporär noch verstärkt wird. Die Schließung von Teilen des viertgrößten Hafens der Welt – Yantian – aufgrund einiger COVID-Fälle verschärft die Situation erneut.“

„Fahrplantreue bei 30 %“

Auch Herbert Pirklbauer, Head of Ocean Österreich bei DB Schenker, bestätigt: „Durch massive Verwerfungen in den internationalen Fahrplänen, in erster Linie ausgelöst durch COVID-19 bedingte Schließungen von Häfen und Überlastungen im Bereich der Infrastruktur, kommt es zu diesen Verzögerungen in den europäischen und internationalen Häfen. Die daraus resultierenden Verzögerungen können je nach Fahrtgebiet und Hafen von einigen Tagen bis hin zu Wochen - z.B. US-Westküste reichen.“

Diese Gesamtsituation führe dazu, dass die Fahrpläne der Schiffe nicht mehr eingehalten werden können, heißt es bei Gebrüder Weiss. „Die Fahrplantreue liegt derzeit bei knapp 30 Prozent. Die Verspätung von Schiffen liegt im Durchschnitt bei zehn Tagen – an der US-Westküste bei bis zu vier Wochen.“

Kühne+Nagel-CEO Trefzger sagt im Interview mit dem Spiegel dazu: „Liegt der Zielhafen für Chinaexporte an der US-Westküste, muss man mindestens zwei Wochen zusätzlich einplanen, so lang sind aktuell die Wartezeiten vor den Häfen. In puncto Produktivität ist kein US-Hafen unter den Top 50. In Europa muss man vier, fünf Tage mehr einkalkulieren.

Lesen Sie auch: Kühne+Nagel bekommt einen neuen CEO

"Wir nennen es Peitscheneffekt"

Solche Vorfälle - "Einzelereignisse", wie Trefzger sagt, - wie etwa die Blockade des Suezkanals, hätte es immer schon gegeben. Warum sie dann solche Wirkung entfalten, erklärt Trefzger mit dem "Peitscheneffekt": "Schlägt man die Peitsche, entstehen aus einer kleinen Handbewegung große Schwingungen. So ähnlich läuft es auch gegenwärtig: Die Kundennachfrage ist in kurzer Zeit stark gestiegen. Hersteller, Lieferanten und Verkäufer schaukeln ihre Prognosen hoch, dadurch nimmt am Ende die Gefahr von Verstopfungen in Engpässen zu."

Immer noch übersteige die Nachfrage die bestehenden Kapazitäten deutlich, so die Antwort auf die Anfrage von Dispo von Gebrüder Weiss. „Das globale TEU-Volumen ist in den ersten neun Monaten 2021 gegenüber 2020 um 8,4 Prozent gewachsen. Im Vergleich zu 2019 beträgt der Zuwachs 5,8 Prozent.“

Bei DB Schenker sei die Nachfrage im Containerverkehr nach wie vor stabil auf hohem Niveau. „Themen wie Kapazitäten und Containermangel bestimmen aber weiterhin die Thematiken in der Seefracht“, erklärt Pirklbauer.

Bei Containex seien Schiffscontainer als Handelsprodukt auf Depots allerdings in ganz Europa verfügbar, heißt es auf Anfrage aus dem Unternehmen. „Somit sind wir nach wie vor kurzfristig lieferfähig. Der Lagerbedarf unserer Kunden wird jedoch zum Großteil mit Lagercontainern gedeckt, die wir in unserem eigenen, europäischen Produktionswerk – individuell nach Kundenwunsch - fertigen. Auch diese Lagercontainer sind in Standard-Ausführung trotz guter Nachfrage sofort verfügbar.“

"Ausgesprochen hoher Betreuungsaufwand"

Bei Kühne+Nagel erforderten die „erschwerten Rahmenbedingungen mit verstopften Häfen und aus dem Takt geratenen Lieferketten in der Seefracht im dritten Quartal 2021 einen ausgesprochen hohen Betreuungsaufwand und eine damit verbundene, geringere Produktivität“, so die Antwort auf eine Anfrage von Dispo. Das Containervolumen lag dabei in den ersten neun Monaten 2021 mit 3,4 Mio. TEU leicht über der Vorjahresperiode, heißt es von Kühne+Nagel.

Hapag-Lloyd-Expertin Kühnbaum erklärt schließlich gegenüber ntv, warum es schwierig ist vorherzusagen, wann sich die Situation bessern wird: „Unsere derzeitige Situation ist nicht getrieben durch nur einen Faktor. Gestiegene Nachfrage, Lkw-Fahrer-Mangel, Quarantäneregeln und anderes werden durch zusätzliche Faktoren wie Extremwetter, die Stromausfälle in China oder zum Beispiel Waldbrände angefeuert. Ein Extremfall in diesem Jahr war zum Beispiel die Blockade des Suezkanals. Die hat dazu geführt, dass sich das gesamte Liefervolumen aus Asien um eine Woche nach hinten verschoben hat. Und das löst sich bei einer so engen Terminal-Situation auch nicht einfach auf. Das Problem wird also im Augenblick von Woche zu Woche weitergetragen. Denn die Auslastung der Häfen verschwindet ja nicht. Man kann den Stau also gerade nicht einfach abarbeiten. Wir werden erst eine Entlastung sehen, wenn sowohl die Transportnachfrage sinkt und wir gleichzeitig wieder eine geringere Auslastung der Terminals sehen, und somit eine verbesserte Produktivität.“