50 Jahre dispo : 50 Jahre, die die Bahn-Welt veränderten

Rail Cargo ÖBB Bahn
© RCG/David Payr

Am 1. Mai 1969 wächst Europa wieder ein kleines Stück zusammen. Ab diesem Tag kann das Eurocheck-System grenzüberschreitend genützt werden. Damals eine Revolution, wenn auch nicht unbedingt die, von der die 68er- und Hippie-Generation träumt. Die Möglichkeit, als Privatperson Schecks eines französischen Instituts problemlos in Deutschland einzulösen, ist trotzdem ein Versprechen von einem Zuwachs an persönlicher Freiheit und von einem Europa, dessen Grenzen zunehmend verschwinden.

Im Bahngeschäft ist zu dieser Zeit davon noch nichts zu spüren. Nicht nur, weil der Eiserne Vorhang den Kontinent in zwei verfeindete Lager trennt. Auch untereinander schotten sich die west- und osteuropäischen Staaten in Sachen Bahnverkehr ab. Denn die Bahn ist im nationalstaatlich geprägten Denken der Zeit nach wie vor ein militärisch-strategisches Objekt. Weshalb jeder Staat fremde Waggons, fremde Güter oder gar fremde Lokomotiven immer auch als eine mögliche Bedrohung sieht und aus eben diesem Grund nur gerade so viel an Kompatibilität zulässt wie unbedingt nötig. Jeder Grenzübergang gerät unter diesen Umständen zu einer Stabsaktion.

Ein anderes Europa, eine andere Bahn

Für Wien gilt bis 1989, bis zum Fall des Kommunismus, außerdem auch noch: Der Standort ist, bildlich gesprochen, ein Kopfbahnhof am Ende der kapitalistischen Welt. Als Drehscheibe Richtung Osten kann er erst in den Folgejahren aufblühen. Und er tut es: Für die ÖBB Rail Cargo ist Osteuropa heute einer der wichtigsten Auslandsmärkte.

Wohl noch stärker als der Fall des Eisernen Vorhangs hat aber der EU-Beitritt 1995 den Güterverkehr auf Österreichs Schienen verändert. Denn damit wurde auch in Österreich die Richtlinie 91/440/EWG über die Bahnliberalisierung rechtswirksam. Die formale Marktöffnung erfolgte allerdings erst drei Jahre später, 1998. Nun konnte der Wettbewerb wirklich beginnen. Der ehemalige Monopolist ÖBB bzw. dessen Gütersparte Rail Cargo hat sich dabei bis heute recht wacker geschlagen, wie Andreas Matthä, Vorstandsvorsitzender der ÖBB Holding betont: „Die meisten Staatsbahnen haben in ihren Heimmärkten nur mehr einen Marktanteil von rund fünfzig Prozent, oft sogar darunter. Wir als ÖBB Rail Cargo Group können in Österreich einen Marktanteil von rund siebzig Prozent ausweisen.“

Nicht nur bei den ÖBB, sondern auch bei der für die Schieneninfrastruktur zuständigen Schienen Control ist man auf ein anderes Faktum stolz: Mit einem Schienenanteil von 30 Prozent am gesamten Güterverkehr ist Österreich das bahnaffinste Land in der gesamten Europäischen Union. Nur das Nicht-EU-Mitglied Schweiz schneidet mit 42 Prozent noch besser ab.

Straße als Konkurrenz

Was freilich nicht heißt, dass Österreich ein Land wäre, in dem die Schiene nicht einer immer stärken Konkurrenz durch die Straße ausgesetzt wäre. Dass liegt nicht ausschließlich daran, dass in die Straße zu viel und in die Schiene zu wenig investiert wird. Einen zusätzlichen Sogeffekt in Richtung Straße erzeugt auch die immer kleinteiligere, immer stärker dem Just-in-Time-Diktat unterworfene Struktur der versandten Güter.

Eine Entwicklung des Modal Split weg von der Bahn und hin zur Straße konstatiert daher der Transport-Experte und Professor an der FH des BFI Wien Andreas Breinbauer. „Die Gründe dafür sind neben dem Güterstruktureffekt auch der Logistikeffekt und der E-Commerce-Effekt.“ Der Straßenverkehr biete für viele Versender mehr und flexiblere Logistik-Optionen, der Internethandel komme wegen der kleinen, aber sehr kurzfristig zu verschickenden Sendungen ebenfalls stärker der Straße zugute denn der Bahn.

„Bei schwerem Massengut ist die Bahn hingegen unschlagbar“, sagt ein Mann, der sich vor allem mit Transporten dieser Art befasst, Markus Schinko, Geschäftsführer des privaten Eisenbahnanbieters CargoServ. Wolle man hingegen auch verstärkt Güter auf die Bahn bringen, die Kombiverkehre erfordern, dann würde das derzeit nur mit Förderungen gehen: „Da muss man klar sagen, dass solche Verkehre derzeit auf jeden Fall auf Subventionen angewiesen sind, um von der verladenden Wirtschaft überhaupt positiv dargestellt werden zu können.“

Die Förderungen wären auch deshalb nötig, sagen Experten, weil die Schiene inzwischen in direkter Konkurrenz zur Straße steht, ohne aber deren strukturelle Vorteile zu genießen. Ein Punkt, den auch ÖBB-Chef Andreas Matthä beklagt: „Der Straßengüterverkehr trägt seine externen Kosten nur zu einem geringen Teil selbst. Es gibt keine flächendeckende Maut, dafür ein extremes Kostendumping durch den Einsatz von russischen, weißrussischen, ukrainischen Fahrern, die ohne Kontrolle in ganz Europa unterwegs sein dürfen.“

Außerdem, sagt Matthä, trage die Gesellschaft für jede Tonne, die auf der Straße statt per Bahn transportiert wird, Kosten in Form von CO2-Emissionen, Staus oder Unfällen: Sein Fazit: „Als Bahnen müssen wir verstärkt das Bewusstsein dafür schärfen.“

Zug zur Innovation

Der zunehmenden Notwendigkeit, mit der Straße unter nicht wirklich vergleichbaren Bedingungen konkurrieren zu müssen, könnten Bahnunternehmen in Zukunft aber auch durch Innovation begegnen. Hier stehen der Branche noch viele Umbrüche bevor. Schon heute erkennt Andreas Beinbauer einen klaren Trend zum „Digital Carrier“, der durch bessere Ausnutzung der bestehenden Kapazitäten flexibler agieren kann. Etwas, was Kunden auch zunehmend einfordern: „Es gibt heute wesentlich mehr Ad-hoc-Verkehre als in der Vergangenheit“, bestätigt Maria-Theresia Röhsler, Geschäftsführerin der Schienen Control.

Auch was die Hardware betrifft, hat die Bahn als System Erneuerungsbedarf. „Ich habe vor dreißig Jahren als junger Techniker meine Berufslaufbahn damit begonnen, Güterwaggons zu konstruieren. Da hat sich in der Zwischenzeit so wenig getan, dass ich das heute noch immer tun könnte. In anderen Bereichen wäre das völlig undenkbar“, sagt Markus Schinko und prophezeit für die nächsten Jahre eine regelrechte „Flut an Neuerungen“.

Schon heute stehen im Fokus der Entwickler Sensor-Lösungen, die das Tracking von Sendungen verbessern und auch die Überwachung von Parametern wie zum Beispiel Feuchtigkeit oder Temperatur erlauben. Was bei einem Zug freilich anders als beim Lkw gelöst werden muss, ist die Frage, was passieren soll, wenn der Sensor Alarm schlägt, weil einer der Werte nicht passt. Der Lkw-Fahrer kann notfalls auf dem nächsten Parkplatz aussteigen und nach dem Rechten sehen. Der Lokführer eher nicht.

Branche mit Englisch-Problemen

Und dann gibt es auch noch ein paar kommunikationstechnische Eigenwilligkeiten zu lösen. So haben es die Bahngesellschaften bis heute nicht geschafft, sich auf eine gemeinsame Verkehrssprache zu einigen. Nach wie vor verlangen die meisten Infrastrukturbetreiber in Europa, dass der Lokführer in einem bestimmten Maß die Landessprache spricht, sonst muss an der Grenze gewechselt werden. Das zieht zwangsläufig Mehrkosten und Verzögerungen nach sich.

Warum man sich nicht längst, wie im Flugverkehr, auf Englisch als länderübergreifende Kommunikationsmöglichkeit einigen konnte, bleibt nicht nur Beobachtern von außen schleierhaft. Auch CargoServ-Chef Schinko kann darüber nur den Kopf schütteln und merkt an: „Dazu würden die Lokführer ja keine ausufernden Sprachkenntnisse oder Nachschulungen brauchen, denn im Normalfall läuft die Kommunikation ohnehin automatisiert über Daten und Schnittstellen.“

Wesentlich schwieriger zu bewerkstelligen dürfte indessen das zweite ausstehende europäische Harmonisierungsvorhaben sein, ein einheitliches Sicherheitssystem von Lissabon bis Bukarest, von Oslo bis Neapel. Derzeit gibt es in Europa rund zwanzig unterschiedliche Sicherheitssysteme, auch das ein Relikt aus jener Zeit, als man fürchtete, der Feind könnte versuchen, auf dem Eisenbahnweg einzumarschieren.

Diese Gefahr besteht heute zwar in Europa längst nicht mehr, doch um Güter auf der Bahn länderübergreifend transportieren zu können, benötigt man immer noch entweder Loks, die unterschiedliche Systeme bedienen können, oder man muss an der Grenze nicht nur den Lokführer, sondern gleich dazu auch die Lok tauschen. Eine Vereinheitlichung tut dringend Not, doch sie geht nur langsam voran. Mit dem ETCS, dem European Train Control System, gibt es zwar Bestrebungen, einen europaweit gültigen Standard zu schaffen, doch umgesetzt wird das im Moment vor allem beim Streckenneubau.

Knackpunkt Anschlussbahnen

Hier leidet die Bahn daran, dass ihre Infrastruktur ein sehr träges, schwer veränderbares System ist. Ein Problem, das auch dort spürbar wird, wo das gut ausgebaute österreichische Netz auf deutlich schlechter dimensionierte Strecken trifft, etwa im Süden: „Der Adria-Hafen Koper ist mittlerweile der wichtigste Hafen für Österreich. Ein Drittel des gesamten Güterumschlags in Koper entfällt auf Waren von oder nach Österreich, der Ausbau der Bahnverbindung dorthin ist daher von großer Bedeutung“, erwähnt Andreas Breinbauer einen aus österreichischer Sicht besonders schmerzlichen Engpass.

Für die Zukunft des Güterverkehrs wird es aber auch wichtig sein, die Infrastruktur in Österreich zu erhalten: „Österreich kann durch die Förderung der Einzelwagenverkehre, der Anschlussbahnen sowie der Terminals den Modal Split wesentlich besser halten als andere europäische Länder“, umschreibt Schienen-Control-Chefin Röhsler die aktuelle Situation. Die Frage ist, ob das auch in Zukunft so bleibt.

Das findet jedenfalls CargoServ-Chef Schinko, der auch als Präsident des Verbands der Anschlussbahnunternehmen fungiert: „Österreich hat gegenüber anderen Ländern den riesigen Vorteil, dass wir ein gut funktionierendes und erhaltenes Netz an Anschlussbahnen haben. Wenn wir eine unumkehrbare Verlagerung der Verkehre auf sie Straße vermeiden wollen, müssen wir diese Anschlussbahnen aber mit entsprechenden Fördermodellen überlebensfähig halten“, sagt er. Denn gehen Anschlussbahnen verloren, verlagere sich der Verkehr unwiederbringlich auf die Straße.

Mit jeder stillgelegten Anschlussbahn geht aber auch ein für alle, die Verkehre auf der Schiene anbieten, entscheidendes Asset verloren: „Die Anschlussbahnen sind auch für das Gesamtsystem sehr wichtig, weil sie Infrastruktur vorhalten, die in Spitzenzeiten genutzt werden kann, sei es als Umschlagmöglichkeit, sei es als Stellplatz.“