Intralogistik : Augmented Reality im Lager - was die Superbrillen können (und was (noch) nicht)
Leichtfüßig schiebt der Lagerist den Kommissionierwagen durch die schmalen Gänge des Lagers. Immer wieder bleibt erstehen, neigt kurz den Kopf, greift einen Artikelaus dem Fachboden und legt ihn in den Wagen. Ein alltäglicher Anblick in der Welt der Intralogistik - wäre da nicht das futuristisch anmutende Gestell auf dem Kopf des Lagerarbeiters. Es lässt seinen Träger ein wenig an die Borg erinnern, die kybernetischen Bösewichte aus Star Trek. Ein kleines, durchsichtiges Displaybefindet sich vor dem rechten Auge, an der linken Wange schiebt sich ein Mikrofonvorbei zum Mund. Mittig über der Stirn ragt eine Kamera ein Stück weit in Blickrichtung. Derartige Ausrüstung könnte in Zukunft Standard beim Kommissionieren werden und vielleicht sogar die Intralogistik revolutionieren.
Die so genannte Augmented Reality(AR) soll es möglich machen. Das Prinzip dabei: Der Träger einer AR-Brille erhält auf dieser, ergänzend zu dem was er ohnehin sieht hilfreiche Informationen, Anweisungen oder Bilder eingeblendet. Ein mobiler Minimonitor also, der allerdings nicht das ganze Gesichtsfeld einnimmt, sondern die Wahrnehmung lediglich ergänzt. Das ist auch der deutlichste Unterschied zu Virtual Reality(VR), historisch gesehen der Vorfahr der AR, die dem Nutzer ausschließlich am Computergenerierte Welten sehen lässt. AR ist eine der großen Zukunftshoffnungen der Intralogistik und soll dazu beitragen, Prozesse im Lager künftig effizienter zu gestalten. Aber auch im Service und als Vertriebsunterstützung gibt es Anwendungspotenzial.
Ungestörtes Blickfeld
Die eingangs beschriebene Kommissionier-Lösung wird vom Intralogistik-Anbieter Knappangeboten und nennt sich „Vision Manual Picking“. Der Nutzer hat ein durchsichtiges Display am Head-Set, auf dem er Symbole– zum Beispiel Punkte, Pfeile oder ein Produktbild- angezeigt bekommt, die ihn durch das Lager zum nächsten Artikel leiten. Die integrierte Kamera scannt dann den Barcode am Behälter und quittiert somit die Entnahme. Ein weiterer Scan bestätigt die Ablage in die entsprechende Box auf dem Kommissionierwagen. Und schon geht es weiter zum nächsten Artikel. Um den Mitarbeiter kognitiv nicht zu überfordern, wird immer eine Information nach der anderen angezeigt und stets nur jene, die gerade benötigt wird. Das Blickfeld bleibt dabei weitgehend ungestört. „Wir haben intensiv daran gearbeitet, um das System an die Bedürfnisse der Anwenderanzupassen und besonders auch auf die Gesundheit der Nutzer geachtet“, sagt Christian Zink, Head of Product Management beim steirischen Unternehmen ivii, eine auf Bildverarbeitungs-und Assistenzsysteme spezialisierte Tochter des Intralogistik-Anbieters Knapp. Das ist auch aus arbeitsrechtlicher Sicht relevant: „Es handelt sich um ein Assistenzsystem, unterliegt also nicht den Beschränkungen von Bildschirmarbeit.“ VR hat in der Intralogistik hingegen keinen Platz, sagt Zink. Dafür gibt es einen ganz banalen Grund: VR-Brillen verdecken beide Augen. Man kann also nichts Anderes sehen, als die computergenerierten virtuelle Umwelt. „Stellen Sie sich vor, in dieser Situation biegt plötzlich ein Stapler um die Ecke“, sagt Zink -eine unakzeptable Gefahrensituation.
Virtuelle Reife
Gerne eingesetzt wird VR hingegen zur Unterstützung von Marketing und Vertrieb. Knapp etwa kann seinen Kunden auf Wunsch eine virtuelle Version eines neuen Lagers zeigen, noch bevor dieses real umgesetzt ist. Mit der VR-Brille ausgerüstet kann man sich durch das dreidimensionale Modell des Lagers bewegen, Details heranzoomen und so ein sehr realistisches Bild davon gewinnen, wie das künftige Lager aussehen wird. Die Erstellung dieser künstlichen Lagerwelt ist kein allzu großer Zusatzaufwand, da Lager heute ohnehin in 3D konstruiert werden. VR in der Vorab-Produktpräsentation gab es bereits vor zehn Jahren. Die Grafikdarstellung ist inzwischen deutlich besser geworden. Doch im Kern handelt es sich um dieselbe Anwendungen wie damals. Auch im Schulungsbereich kann VR ihre Stärken ausspielen. Beispielsweiselassen sich bestimmte Handgriffe in der sicheren virtuellen Umgebung üben, bis sie sitzen. Doch sobald Mobilität gefragt ist, Menschen sich also irgendwo bewegen müssen, oder die Umgebung mögliche Gefahrensituationen beinhaltet (was in der Industriepraktisch immer der Fall ist), schließt sich VR aus. Das ist durchaus kein Mangel der Technologie. Man kann es sogar im Gegenteil als ihre Reife betrachten, dass sie ihr Potenzial bereits ausgeschöpft hat. „Bei VR fehlt der Konnex zur Realität“, meint Markus Streibl, beim österreichischen Unternehmen Evolaris für den Bereich Smart Production Solutions verantwortlich. Die Kapsch-Tochter Evolaris hat eine Lösung entwickelt, die von den meisten Menschen wohl ohne Bedenken als AR bezeichnet würde. Streibl selbst nennt das System aber „Augmented Vision“, weil zwar Informationen am Display eingeblendet werden, diese aber vom Anwende nicht interaktivbeeinflusst werden können. Dahinter steht das Problem, dass es keine verbindliche Definition von AR gibt. Oder besser gesagt – es gibt zwar eine, doch die kommt aus der Forschung (und ist für PR- und Marketingabteilungen nicht immer verbindlich). Der Wissenschaftler Ronald T. Azuma nannte 1997 in einem 48-seitigenAufsatz in der Fachzeitschrift „Teleoperatorsand Virtual Environments“ drei Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit ein System in seinem Sinn als AR gilt. Erstens muss es reale und virtuelle Welt kombinieren. Zweitens muss es Interaktion in Echtzeit erlauben. Und drittens muss die virtuelle Komponente in 3D ausgeführt sein.
Experte unterstützt
„Ganz echte AR im strengen Sinn ist mir in der Industrie nicht bekannt“, sagt Markus Streibl. Aber immerhin ist Evocall ziemlich nahe dran. Das System dient zur Unterstützung von Service-Mitarbeiter vor Ort, beispielsweise an einer ausgefallenen Anlage. Dazu stellt der Servicetechniker vor Ort eine Verbindung mit einem Experten her, der sich theoretisch überall auf der Welt befinden kann. Gemeinsam machen sie sich dann daran, das Problem zu lösen. Der Experte sieht genau das, was auch der Techniker sieht. Er kann nicht nur verbale Hilfestellung geben, sondern auch digitale Informationen aufs Display einspielen. Zum Beispiel Montageanleitungen oder einen Schaltplan. Die gemeinsame Arbeit kann zur Dokumentation auch aufgezeichnet und später zu Schulungszwecken genutzt werden. Die Software von Evocall hat Evolaris selbst entwickelt. Die Hardware, also die Brille, ist ein Zukaufteil. Im Prinzip kann Evocall auch auf Smartphones oder Tablets genutzt werden, da es auch als Webapplikation angeboten wird. „Aber die native Anwendung ist mit einer Brille“, so Strebl. Dabei ist Evocall herstellerunabhängig. Derzeit ist die Kommunikation auf zwei Teilnehmer beschränkt. Ab Herbstwird es möglich sein, zusätzliche Teilnehmereinzuladen. Grundsätzlich ist die Entwicklung eines AR-Systems bereits eine Herausforderung an sich. Doch die Anwendung wirft ebenfalls Fragen auf. „Woher kommt der Content? Werbereitet den Content auf – vor allem, wenn es sich um 3D-Modelle handelt?“, nennt Streibl einige Punkte, deren Relevanz man leicht unterschätzt. „Anbindung und Wartung des Content sind eine mindestens ebenso große Herausforderung wie die Entwicklung der Anwendung selbst.“ Seit September 2016 ist Evocall auf dem Markt. Ein Dutzend Kunden setzt es bereits ein. Darunter auch die Firma TGW, Anbieter von Anlagen zur Lagerautomatisierung. QR-Code scannen Bei TGW beschäftigt man sich schon seit einigen Jahren mit digitalen Assistenzsystemen. Und das auf sehr systematische und strukturierte Weise: Im Zuge eines Innovationsprozesses wurden verschiedene Technologien identifiziert, paradigmatische Anwendungen für diese definiert und schließlich die Entwicklung angestoßen. Im Bereich der Anlagenwartung setzt TGW das System von Evolaris ein. „Wir haben uns zwar für ein off-the- shelf-Produkt entschieden, uns aber aktiv in die Weiterentwicklung für unsere Bedürfnisse eingebracht“, sagt Christoph Knogler, Director Global Lifetime Services bei TGW. Ein halbes Jahr lang hat TGW das System an drei Standorten mit 20 bis 30 Technikern getestet. „Anfangs waren die Techniker skeptisch, aber am Ende waren sie alle begeistert“, sagt Knogler. Eine Erweiterung hat TGW bereits in Planung: Künftig soll ein Techniker durch eine Anlage gehen können und wenn ihm an einem Anlagenteil etwas Ungewöhnliches auffällt, einfach einen dort angebrachten QR-Code scannen. Daraufhin wird ihm das System alle relevanten Infos des Anlagenteils auf der Datenbrille anzeigen - etwa wann die letzte Wartung war, worum es dabei ging und so weiter.
„Der für die Intralogistik wohl wichtigste Anwendungsfall von Augmented Reality ist das Kommissionieren“, sagt Knogler. Auch unter dem Namen Pick-by- Vision bekannt, handelt es sich dabei quasi um die Königsklasse der AR in der Logistik. Große Händler wie Amazon experimentieren damit, Paketdienste wie DHL, Automobilhersteller wie VW und natürlich auch Intraglogistikanbieter wie Knapp oder TGW, die ihren Kunden die neuen Technologien verkaufen möchten. „Da haben wir zwar noch kein Produkt, aber wir sind intensiv am Entwickeln“, verrät Knogler. „Wir wollen erst dann etwas zeigen, wenn es unseren Kunden wirklich einen Mehrwert bringt.“ Zwar gebe es bereits einige Lösungen, die in manuellen Lagern funktionieren. Aber die Reife, dass man einen Standort mit 100 Datenbrillen für den regulären Schichtbetrieb versorgt, hat die Technologie für den TGW-Experten noch nicht.
Zu schwer
Noch gibt es einige Schwierigkeiten, die dem Sprung von der Zukunftstechnologie zum Industriestandard im Weg stehen. Vor allem die am Markt verfügbaren AR-Brillen eignen sich bisher nur eingeschränkt für den industriellen Einsatz. So ist bei fast allen die Akkulaufzeit ein limitierender Faktor (siehe Kasten AR Brillen). Auch wurden viele Brillen ursprünglich für Computerspiele oder den Sportbereich entwickelt. Das raue Industrieumfeld ist nicht ihr natürliches Habitat. „Im Entwicklungslabor oder als Prototyp funktioniert es noch“, sagt Knogler. „Aber wenn es richtig heiß wird oder ein Mitarbeiter schwitzt, haben die Geräte Probleme. Auch das Gewicht der heutigen Brillen möchte ich keinem Mitarbeiter eine ganze Schicht lang zumuten. Und das wäre ja eigentlich das Ziel.“ Daneben gibt es auch ganz untechnische Gründe, warum sich eine gute Idee nicht rasch zur Umsetzung bringen lässt. „Wenn man mit der Idee für ein AR-Projekt zu einer Firma geht, wird man zuerst an die Forschungsabteilung verwiesen. Und dort bleib es dann erst einmal eine Zeitlang liegen“, sagt ein Branchenvertreter, der nicht namentlich genannt werde möchte. Zudem sind Kommissionier-Lösungen die mit Pick-by-Light oder Pick-by-Voice arbeiten im Allgemeinen günstiger als Pick-by-Vision. Schließlich ist die Bilderkennung noch nicht so weit, dass winzige, verschmutzte oder beschädigte Barcodes, die vielleicht noch auf reflektierenden Plastikbehältern angebracht sind, von den integrierten Kameras mit hoher Zuverlässigkeit gelesen werden können. Doch
die Branche ist sich einig: Diese Schwierigkeiten werden sich überwinden lassen. Die Intralogistiker wollen sich AR jedenfalls nicht
mehr nehmen lassen.
Augmented Reality bedarf nicht unbedingt einer Brille. Dennoch sind die teils recht futuristisch designten Brillen inoffiziell zum Synonym für die Technologie geworden. Bei AR-Brillen gibt es zwei grundsätzliche Unterscheidungen. Einmal jene zwischen monokularen und binokularen Brillen, also ob die digitalen Inhalte nur auf einem Aug oder auf beiden Augen angezeigt wird. Die zweite Unterscheidung ist jene zwischen See-Through-und Look-Around-Brillen. Während erstere ein transparentes Display haben, auf dem Inhalte angezeigt werden, sind letztere mit einer kleinen geschlossenen Anzeigeeinheit ausgerüstet, um die der Nutzer herumsehen muss.
Dispo hat sich fünf Produkte genauer angesehen:
Vuzix M300
Microsoft HoloLens
Epson Moverio BT-300
Intel Recon Jet
Realwear HMT-1