Frachtenbörsen : Auslaufmodell Frachtenbörse?
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Von wegen Sekunden. Wenn Rolf-Dieter Lafrenz in Fahrt kommt, geht es um andere Dimensionen. Innerhalb von Millisekunden, sagt er, können digitale Speditionen den Preis für eine bestimmte Fracht festlegen, Routen ändern, Kapazitäten umschichten. Dahinter stecke künstliche Intelligenz, die sich Algorithmen, die sie braucht, selbst beibringt. Was bislang Disponenten machten, erledigt in einer digitalen Spedition die Software. Bloß viel schneller. Bis zu einer halben Stunde benötigen Disponenten heute, um einen Transportauftrag zu organisieren. In einer digitalen Spedition, erklärt Lafrenz, dauert das maximal eine Minute. Wenn überhaupt.
Lafrenz muss es wissen. Mit dem Hamburger Startup Cargonexx ist er dabei, ein Modell zu etablieren, das dem Speditionsgeschäft schon bald eine völlig andere Gestalt geben könnte. Und das vor allem Frachtenbörsen, einst Bastionen des Digitalen in der Branche, gehörig unter Druck setzen, vielleicht sogar in die Bedeutungslosigkeit führen wird.
Denn eine digitale Spedition, wie sie Lafrenz denkt, soll deutlich mehr können, als bloß online Fracht und Laderaum zusammenzubringen. Eher schon ist sie als eine alles umspannende Weltformel gedacht, jedenfalls für das Universum der Logistik. Der Ansatz von Lafrenz lautet daher auch ganz unbescheiden: das gesamte Erfahrungswissen der Branche für Computer operationalisierbar machen, in digitale Modelle zu gießen und zu einem selbstlernenden und nahezu selbstlaufenden Echtzeitsystem zu verdichten. Addiert man zu dieser ambitionierten Zutatenliste auch noch den gar nicht mehr so utopischen selbstfahrenden Hub-to-Hub-Lkw hinzu, wird die mögliche Wirkbreite des Unterfangens erst recht sichtbar.
Dementsprechend überzeugt erklärt Lafrenz seine Idee: „Unsere digitale Spedition Cargonexx ist keine Frachtenbörse, aber auch keine klassische Spedition. Der Unterschied zwischen Cargonexx und traditionellen Speditionen ist so ähnlich wie der Unterschied zwischen einem Tesla und einem BMW. Beides sind Autos, aber die Idee und das Geschäftsmodell, die dahinter stecken, sind völlig unterschiedlich.“
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Branche im Umbruch: Wie viel Digitalisierung verträgt die Logistik?
Die Ansage klingt selbstbewusst, möglicherweise stimmt sie aber dennoch nicht ganz. Denn, so sehen es jedenfalls klassische Spediteure, sie treibt bloß an die Spitze, was die Branche ohnehin bereits seit etlichen Jahren bewegt. „Die Dynamik geht eindeutig dahin, dass jeder Kunde von seinem Spediteur eine weitgehend digitalisierte Abwicklung verlangt. Dazu gehören selbstverständlich auch Schnittstellen zu den IT-Landschaften des Kunden“, sagt Davor Sertic, der Chef von UnitCargo. Und belegt das Phänomen mit Zahlen: „Unsere IT-Ausgaben sind heute um vierzig bis fünfzig Prozent höher als vor zehn Jahren. Bei einer Million Euro Umsatz fallen erfahrungsgemäß rund 20.000 Euro an IT-Kosten an.“
Anders formuliert, könnte man daher behaupten: Während Start-ups gerade die digitale Logistik ausrufen, sind traditionelle Speditionen längst auf dem Weg dorthin. Schon bald werden daher die meisten Spediteure ganz selbstverständlich durchexerzieren, was im Moment noch als ein typisches Asset von Frachtenbörsen gilt: mit digitalen Tools die Auslastung besser steuern und dafür sorgen, dass selbst bei knappen Kapazitäten termingerecht geliefert wird.
Im Moment ist der Mangel an Laderaum allerdings tatsächlich der treibende Faktor für das Frachtenbörsen-Geschäft. Im April dieses Jahres überstieg europaweit die Nachfrage nach Lkw erstmalig die vorhandenen Kapazitäten. Das lässt Frachtenbörsen nach einer eher beschiedenen Zeit wieder gute Geschäfte machen. „Die Vorzeichen am Transportmarkt haben sich innerhalb der vergangenen drei Jahre deutlich geändert“, bestätigt Gunnar Gburek von TimoCom. „Mussten Transportunternehmer vor kurzem noch ihrer Marge hinterherfahren, können sie heute aus einem Überangebot wählen und sich diejenigen Touren aussuchen, die sich am besten rechnen.“
Fracht und Laderaum mit viel Rechnerleistung zusammenzubringen und dabei einen für alle Seiten optimalen Preis aushandeln, diese Grundidee des Frachtenbörsen-Geschäfts könnte allerdings dennoch schon bald obsolet werden. Weil eben Unternehmen mit einem weiterreichenden Ansatz wie etwa Cargonexx nachrücken. Die Chefs der großen Frachtenbörsen wissen das natürlich. Und versuchen gegenzusteuern, indem sie sich zunehmend nicht nur als reine Vermittler, sondern ebenfalls als umfassende Digitalisierungsberater positionieren. Den aktuellen Auftrag seines Unternehmens sieht Peter Schmidt, Geschäftsführer und CCO der Transporeon Group, einer der gegenwärtig größten Frachtenbörsen, daher auch längst darin, „alle Anforderungen des Transportmarktes in puncto Digitalisierung zu erfüllen.“
Was die Künder des Digitalen in ihrem Eifer allerdings ein wenig übersehen: So schnelllebig die Transportlogistik auch geworden ist, so dringend sie neue Ansätze braucht und so sehr sie vom permanenten Wandel betroffen ist – grenzenlose 4.0-Gläubigkeit ist ihr, im Gegensatz zu manch anderen Bereichen, fern. Und somit setzt sich auf diesem Markt vieles aus der bunten Start-up-Welt erst relativ spät durch, manches auch gar nicht.
Eine dementsprechend nüchterne Zwischenbilanz zieht daher auch der WKO-Bundesspartenobmann Alexander Klacska: „Ich habe den Eindruck, dass die vielen Start-ups und Plattformen die bislang in sie gesetzten Erwartungen nicht ganz erfüllen konnten, jedenfalls nicht in unserer Branche.“ Klacska sieht die Zukunft daher auch darin, vor allem in eigene IT-Lösungen zu investieren, anstatt auf externe Plattformen zu setzen: „Dass man die eigene IT an die Kundensysteme möglichst gut anbindet, wird für Spediteure immer mehr zur Überlebensfrage. Denn wir liefern immer tiefer in die Supply Chain hinein.“
Auch Fritz Müller, Chef der niederösterreichischen Müller Transporte, zeigt eine entspannte Haltung dem digitalen Neuen und erst recht den Frachtenbörsen gegenüber: „Frachtenbörsen sind sicher nicht die größte Herausforderung für Spediteure. Die große Herausforderung ist die Digitalisierung. Andererseits ist schon jetzt klar, dass die Digitalisierung kein Allheilmittel ist.“
Strukturelle Probleme: Kann Rechenleistung jede Schielflage zurechtrücken?
Dass die Branche nicht nur mit organisatorischen, sondern vor allem mit strukturellen Problemen zu kämpfen hat, sieht auch Cargonexx-Gründer Lafrenz. Was ihn von seinen analog denkenden Spediteur-Kollegen unterscheidet, ist aber der ungebrochene Glaube, dass sich auch diese Probleme mit Rechnerleistung lösen lassen. Zum Beispiel Leerfahrten. „Nach wie vor bleiben rund vierzig Prozent aller fahrenden Lkw-Kapazitäten ungenutzt“, betont er. „Dieser Prozentsatz ist zwar vielfach strukturell bedingt, wäre aber durch Optimierungen dennoch deutlich zu senken.“
Und er führt unzählige weitere Beispiele an, wo die Kraft der künstlichen Intelligenz schaffen kann, was für menschliche Disponenten immer schwieriger wird: die Volatilität des Geschäfts zu bändigen. Denn habe früher ein guter Disponent aufgrund seiner Erfahrung exakt prognostizieren können, ob an einem bestimmten Wochentag zu einer bestimmten Jahreszeit die Nachfrage nach Fahrten groß oder klein sein wird, so sei das heute kaum noch der Fall. Wenn man aber das Wissen von tausenden von Disponenten mit Markt-, Wetter- und Straßendaten verknüpft, werden exakte Prognosen wieder möglich. Auf genau dieser Überzeugung will er sein Modell der digitalen Spedition aufbauen.
Die Praxis am Markt zeigt, dass der Gedanke seine Berechtigung hat. In manchen Speditionen verbringen die Disponenten die erste Stunde ihres Arbeitstages schon heute damit, die Plattformen der großen Frachtenbörsen zu beobachten und Take-Aufträge zu positionieren, um daraus Schlüsse zu ziehen, wie die aktuelle Bedarfslage ist und welche Frachten man daher während des Tages annehmen wird. Die Idee, dass ein guter, womöglich selbstlernender Algorithmus diese Aufgabe noch besser bewältigen könnte, ist nahliegend.
Den Job des Disponenten gänzlich abschaffen dürfte aber auch die digitale Spedition nicht. Wie bei der Digitalisierung anderer Bereiche wird allerdings auch hier jener Teil der Arbeit, die ein Computer besser bewältigen kann, von ihm übernommen werden, während der Mensch sich dem widmet, was der Rechner noch nicht so gut kann: das Unvorhersehbare zu managen. Hatte ein Disponent früher einen überschaubaren Pool an Lkw zu verantworten, für deren bestmögliche Auslastung er zuständig war, so werden es in Zukunft wohl deutlich mehr Fahrzeuge sein, weil er nur bei Problemen aktiv werden muss, die das automatisierte System nicht von allein lösen kann.
Digital versus analog: Auslastung, Sicherheit und Qualitätskontrolle als Entscheidungskriterien.
Die rapide fortschreitende Globalisierung des Marktes sieht Lafrenz als einen weiteren Punkt, der digitale Planung, die weit über das Modell von Frachtenbörsen geht, unumgänglich macht. „Die Volatilität im Markt ist ja extrem gestiegen“, sagt er. „Der Anteil osteuropäischer Unternehmer, die ihre Fahrer in Weißrussland, der Ukraine oder sogar Asien rekrutieren, steigt ständig.“ Diese Unternehmen können daher auch leichter wachsen als heimische. Allerdings: „Sie sind nicht regional verankert. Sie fahren dort, wo die Preise am attraktivsten sind und reagieren sehr schnell auf Marktveränderungen.“
So könne es vorkommen, dass diese Transporteure auf einmal geschlossen eine Region verlassen, weil anderswo gerade bessere Konditionen geboten werden. Die regionalen Frächter schaffen es dann nicht, die plötzlich auftretenden Engpässe auszugleichen, und auf einmal entstehen, quasi wie aus dem Nichts, massive Versorgungslöcher. Auf solche unvorhersehbaren Entwicklungen, meint Lafrenz, können digitale Plattformen heute besser reagieren als die analoge Welt.
Eine Einschätzung, die allerdings nicht alle teilen: „In der Logistik ist die Digitalisierung viel schwieriger als im B2C-Sektor. Dort gibt es unendlich viele funktionierende Plattformen, im B2B-Bereich wüsste ich hingegen keine Plattform, die wirklich erfolgreich ist“, sagt etwa Davor Sertic von UnitCargo.
Was ihn allerdings nicht daran hindert, ab und zu mit solchen Plattformen zu kooperieren. Für Zwischenfahrten oder wenn gerade Palettenladeplätze in einem Lkw frei sind, bieten digitale Plattformen eine willkommene Gelegenheit, um die Auslastung zu verbessern, bedeuten für den Spediteur allerdings auch einiges an Zusatzaufwand, sagt er: „Bevor wir Aufträge von einer Frachtenbörse annehmen, machen wir immer einen Bonitätscheck des Kunden. Das war nicht immer so, aber die Erfahrung hat uns gezeigt, dass sonst die Gefahr des Zahlungsausfalls zu groß ist.“
Ein Vorteil digitaler Speditionen gegenüber Frachtenbörsen ist, dass zumindest dieses Risiko wegfällt. Und auch in manchen anderen Punkten scheint das neue Modell „Plattform als Spedition“ gegenüber dem alten Modell „Plattform als Vermittler“ Vorteile zu haben. Auftraggeber aus technologiekritischen Branchen wollen zum Beispiel allein deshalb nicht, dass ihre Frachten auf Vermittlerbörsen auftauchen, weil dadurch Schlüsse auf interne Prozesse gezogen werden könnten: auf Zulieferer, auf Mengen. Bei der Inanspruchnahme von Plattformen, die als digitale Spedition aufgesetzt sind, entfällt dieses Problem, da dort die Fracht ja nicht versteigert wird und somit uneinsehbar bleibt.
Zum Teil lehnen Branchen traditionelle Frachtenbörsen ohnehin flächendeckend ab. Die Automotive-Industrie etwa schreibt in Verträge mit Speditionen einen Passus hinein, der besagt, dass ihre Frachten nicht auf Vermittlerbörsen gestellt werden dürfen. Versuche, solche Vereinbarungen zu umgehen, glücken selten, denn die Einhaltung wird penibel, oft von eigens dafür abgestellten Mitarbeitern, überprüft. „Auf den Schmäh, statt einer Ladung von Wien nach Stuttgart eine von Wiener Neudorf nach Heilbronn in eine Börse zu stellen, fallen diese Leute sicher nicht herein“, sagt ein Insider.
Wem gehören die Daten? Auch neue digitale Modelle werfen Fragen auf.
Spätestens mit dem Inkrafttreten der Datenschutzgrundverordnung wird sich die Situation für Frachtenbörsen außerdem noch einmal verschärfen, meint Davor Sertic von UnitCargo. Denn war es bislang die gängige Praxis, dass die Auftraggeber die Abwicklung ihrer Frachten über Börsen aktiv untersagen mussten, um sie zu verhindern, gelte nun wohl das Gegenteil: „Wenn die Datenschutzgrundverordnung in Kraft tritt, wird man Frachten des Kunden eigentlich nur noch mit dessen expliziter Zustimmung in Frachtenbörsen stellen können“, sagt Sertic.
Wie digitale Speditionen mit dieser Problematik umgehen werden, ist ebenfalls nicht ganz klar. Offen bleibt aber auch, wie gut digitale Speditionen auf Dauer die Qualitätskontrolle schaffen, also jenen heiklen Punkt, der aus der Sicht konventioneller Transporteure immer schon gegen Online-Plattformen gesprochen hat. „Frachtenbörsen sind dort gut, wo es um standardisierte Prozesse geht. Für komplexere Frachten eignen sie sich meines Erachtens nicht, etwa wenn Zusatzausrüstung gefragt ist oder Sprachkenntnisse. Das kann eine Frachtenbörse kaum garantieren“, sagt zum Beispiel Alexander Klacska.
Zum Modell der digitalisierten Spedition, wie es Lafrenz versteht, gehört Topqualität und deren Kontrolle allerdings als unverzichtbarer Bestandteil dazu. Auch einen anderen Einwand, der gegen digitale Modelle vorgebracht wird, entkräftet der Hamburger gerne: dass aufgrund von Kooperationen mit osteuropäischen Transporteuren gehäuft Reklamationen auftreten würden.
In Wirklichkeit, sagt Lafrenz, sei eher das Gegenteil der Fall: „Bei uns verursachen deutsche und österreichische Frächter anteilig mehr Qualitätsprobleme als die osteuropäischen Anbieter. In Osteuropa entstehen viele Transportunternehmen, die toporganisiert sind.“ Ein wenig klingt das wie eine Kampfansage. Wirklich beeindruckt zeigen sich die heimischen Spediteure davon allerdings nicht. Stattdessen verweisen sie ziemlich gelassen auf Erfahrungen, die sie schon mit Frachtenbörsen gemacht haben: „Solche Modelle gibt es im Grunde seit zwanzig Jahren“, sagt Davor Sertic. „Wenn sie es in dieser Zeit nicht geschafft haben, die Spediteure umzubringen, werden sie das auch in Zukunft nicht schaffen.“