Ist so ein Vorgehen „sauber“?
Es spricht erstmal nichts dagegen. Das ist keine Bilanzfälschung. Ob es immer effizient ist, ist eine andere Frage. Wenn man zum Beispiel Leute vor dem Bilanzstichtag in Urlaub schickt, nur um sie danach Überstunden machen zu lassen, ist das vielleicht nicht sehr effizient. Aber wenn es das Ziel des Managements ist, möglichst gut dazustehen oder vielleicht auch die eigenen Kennzahlen zu optimieren, dann kann das sinnvoll sein. Es ist keine Manipulation, aber es ist eine Dehnung der Möglichkeiten, die man aus operativer Sicht eigentlich nicht wählen würde.
Die Bestandsreduktion, die Sie identifiziert haben, variiert zwischen durchschnittlich 3,3 Prozent und 8,6 Prozent. Welche Unternehmen reduzieren stärker, welche weniger stark?
Das ist sehr spannend. Wir sind gerade dabei, besser zu verstehen, welche Unternehmen das eigentlich sind, die ihre Bestände besonders stark reduzieren. Wir haben bereits festgestellt, dass Unternehmen, die ein Cashflow-Ziel haben, diesbezüglich besonders auffallen. Wir können bei unsrer großen Stichprobe natürlich nicht für jedes einzelne Unternehmen genau verstehen, was deren konkretes Cashflow-Ziel ist. Aber aus der Literatur kennt man zwei Arten von Zielen. Erstens: überhaupt einen positiven Cashflow zu erreichen. Wenn man das beispielsweise in den ersten drei Quartalen noch nicht geschafft hat, dann versucht man mit allen Mitteln, es im vierten Quartal zu schaffen. Diese Unternehmen senken dann ihre Bestände besonders stark ab. Das zweite, in der Literatur beschriebene Ziel ist, den Cashflow-Wert des Vorjahres zu erreichen oder zu übertreffen.
Ihre aktuellen Forschungsergebnisse basieren auf einem Datensatz US-amerikanischer Unternehmen. Lassen sich die Ergebnisse auch auf europäische Firmen übertragen?
Das Schöne an den amerikanischen Daten ist, dass sie sehr strukturiert vorliegen. Man kann mit einer einfachen Datenbankabfrage alle benötigten Zahlen runterladen und anschließend auswerten. Bei nicht-amerikanischen Unternehmen, selbst wenn sie börsennotiert sind, geht das nicht so einfach. Aber es gibt einige Studien aus dem Finanzbereich, die gezeigt haben, dass sich die Mechanismen und Effekte auf viele Forschungen an europäischen Unternehmen übertragen lässt. Ich würde mich sehr wundern, wenn das Phänomen bei europäischen Unternehmen grundsätzlich anders wäre. Ich habe es selbst bei zwei europäischen Unternehmen beobachtet. Das war auch der Grund, warum ich auf dieses Forschungsthema gekommen bin. Man findet immer wieder einzelne Unternehmen, die ihre Bestände künstlich reduzieren. Wir wollten untersuchen, ob das auch in großem Maßstab passiert. Und wir konnten zeigen, dass das zumindest für den nordamerikanischen Raum so ist. Und ich bin mir ganz sicher, dass das auch für Europa hält.
Wie viele Unternehmen nehmen solche Arten von Bestandskorrekturen vor?
Bei über 90 Prozent der Unternehmen sind die Bestände im vierten Quartal am niedrigsten. Wenn Sie mich fragen, bei wie vielen eine aktive Einflussnahme dahintersteht, würde ich sagen, dass es jedes zweite Unternehmen sein kann.
Sie nennen das beschriebene Phänomen den „Inversen Eishockeyschläger-Effekt“. Warum?
Es gibt im Vertrieb den so genannten „Hockey Stick Effect“, der besagt, dass die Verkäufe zum Ende eines Budgetzeitraumes – das kann ein Monat, ein Quartal oder ein Jahr sein – plötzlich nach oben gehen. Grafisch wird das als Linie dargestellt, die die Form eines Hockeyschlägers hat. Wir betrachten den umgekehrten Fall: Die Bestände gehen runter. Deshalb „invers“. Und das Schöne, das wir zeigen konnten ist, dass die Bestände noch wesentlich stärker nach unten als die Umsätze nach oben.