Wearables : „Das können wir ja wirklich einsetzen“
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Johann Bernhardt bedient sich bei Präsentationen gerne eines kleinen, aber wirksamen Tricks. Obwohl weit und breit kein Sessel zu sehen ist, kündigt er an, sich hinsetzen zu wollen – und tut genau das. Erst, wenn er scheinbar in der Luft sitzt, werden die kleinen Metallschienen sichtbar, die sich aus seinen Hosenbeinen schieben.
Bernhardt ist Gründer des Startups Exomys, und er baut Exoskelette. „Für die habe ich mich schon immer interessiert“, erzählt der studierte Robotiker, dessen Masterarbeit in Harvard ebenfalls ein Exoskelett war. Waren seine Produkte und Ideen früher eher dem rein medizinischen Bereich zuzuordnen, hat er mit Exomys – dem „Augmented Humanity Exoskeleton“ – nun ein Tool entwickelt, das in die Bereiche Logistik und Arbeitsphysiologie greift.
„Meine Exoskelette dienen vor allem der Prävention gegen moderne Arbeitskrankheiten“, erklärt der Gründer, „sie unterstützen bei langfristigen, schweren und einseitigen Tätigkeiten.“ Rund 80 Prozent der Menschen, die am Bau arbeiten, gehen in Frühpension, rechnet Bernhardt vor, die meisten von ihnen mit Schäden am Bewegungsapparat. Dass Robotisierung und Automatisierung das Problem in den Griff bekommen, glaubt er nicht. „Das ist nur ein Teil der Lösung. In der Industrie sind heute im Schnitt nur drei von hundert Handgriffen automatisiert. Exomys setzt woanders an: Wir unterstützen den Menschen direkt.“
Sitzen, wo man nicht sitzen kann
Exomys besteht genau genommen aus zwei Modulen. Das Modul für die Beine unterstützt bei stehenden Tätigkeiten, etwa bei der Arbeit an einem Fließband. Es dient der Prävention gegen Abnützungserscheinungen vor allem in der Knien oder der Hüfte. „Sitzen, wo man nicht sitzen kann“, umreißt Bernhardt die Idee. Das zweite Modul unterstützt die Arme. Dabei verlagert Exomys einen Teil der Last von den Armen auf den Oberkörper, der natürlich robuster ist. Johann Bernhardt macht bei seinen Präsentationen immer wieder Furore, wenn er zeigt, wie man mit zwei Fingern völlig problemlos Massen von 15 bis 20 Kilogramm heben und halten kann.
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Der jüngste Exomys-Prototyp besteht aus Aluminium und Stahl und hat dabei eine Masse von weniger als zwei Kilogramm. Eine Weiterentwicklung in Richtung Karbon, wie sie Bernhardt vorschwebt, würde diesen Faktor noch einmal deutlich senken. Dennoch ist Exomys bereits heute erstaunlich unauffällig. Es ist unter der Kleidung zu tragen und behindert den Träger weder beim Gehen noch beim Laufen. „Wir haben bei der Entwicklung großen Wert auf Usability gelegt, auf hohe Flexibilität in den Freiheitsgraden. Daher ist das Exoskelett nur an den Knöcheln und am Gürtel und am Gürtel befestigt.“
Keine Elektronik, keine Akkus
Ein wesentliches Asset von Exomys: Es ist ein rein passives Gerät, beinhaltet also keinerlei Elektronik und keine Akkus. Das drückt einerseits den Preis auf rund ein Zehntel im Vergleich zu aktiven Exoskeletten, und es hat außerdem eine wichtige psychologische Folge, wie Bernhardt erklärt: „Menschen haben generell Angst vor Kontrollverlust. Sich einem Gerät auszuliefern, das die Bewegungen beeinflusst, weckt also Ängste, etwa im Falle einer Fehlfunktion verletzt zu werden.
Das kann mit Exomys nicht passieren, da es nur passiv auf das Verhalten des Trägers reagiert.“ Der psychologische Aspekt wird bei der Markteinführung – Bernhardt sucht derzeit nach Pilot-Anwendern in der Industrie – eine Rolle spielen. Manche, die das Exoskelett zum ersten Mal sehen, reagieren verhalten, erzählt er. „Exomys ist definitiv ein Gerät, das man einmal in Aktion gesehen haben muss. Dann erlebe ich aber immer wieder, dass Skepsis in Begeisterung umschlägt.“ Was nicht zuletzt daran liegt, dass Exomys extrem einfach zu bedienen ist. Die Lernkurve, sagt Bernhardt, ist eine steile: Länger als eine Minute habe noch niemand gebraucht, um die Bedienung zu beherrschen.
„Sehr konkrete Fragen“
Robert Duchac ist offensichtlich ein Mensch, der wirklich hinter seinem Produkt steht. „Wir revolutionieren die Arbeitsprozesse. Wir bieten erstmals Sprachsteuerung im industriellen Umfeld. Das gab es in dieser Form bisher noch nie.“ Duchac ist Business Development Manager bei Barcotec und verantwortlich für das Head Mounted Tablet HMT-1, das von RealWear entwickelt wurde. Barcotec kooperiert seit 2016 mit RealWear, war aber schon davor Entwicklungspartner.
Das HMT-1 ist ein 380 Gramm leichtes sprachgesteuertes Tablet mit Micro-Display. Basierend auf Android 6.0 und dank Schutzart IP66 strahlwassergeschützt, stoßfest und staubdicht, kann es in Umgebungstemperaturen zwischen -20 und +50 Grad eingesetzt werden. Es verfügt über eine 16-MP-Kamera mit fünffach optischem Zoom und LED-Licht und Kann über WiFi, Bluetooth, LE, Micro USB und Type-C-USB kommunizieren.
Überraschend digital
Das HMT-1, erklärt Robert Duchac, ist im Grunde nur Hardware, „wir arbeiten derzeit mit rund 50 Software-Partnern. Dementsprechend gibt es nahezu unendlich viele Anwendungsmöglichkeiten.“ Mehrere Tausend der Geräte sind bereits weltweit im Einsatz, meist in den Bereichen Remote-Service, Remote-Reparatur oder Videokonferenzen. „Häufig geht es um Versand- und Eingangskontrolle“, erzählt Duchac, „im Bereich der Kommissionierung sehen wir das HMT-1 eher nicht, denn hier ist das Level im Allgemeinen ohnehin schon sehr hoch.“ Der Einsatz in speziellen Fällen entzieht das Gerät auch der Diskussion um arbeitspsychologische Fragen. Das HMT-1 ist nicht dafür gedacht, stundenlang getragen zu werden, sondern in speziellen Fällen die Kommunikation zu revolutionieren.
In das allgemeine Klagen über den Digitalisierungsgrad der heimischen Unternehmen will Robert Duchac nicht einstimmen: „Wir sind bei Präsentationen immer wieder positiv überrascht, wie viele Unternehmen sich bereits mit Wearables beschäftigt haben. Viele haben sehr konkrete Fragen, und es kommt schnell zu einem sehr intelligenten Austausch. Die Menschen merken: Das können wir ja wirklich einsetzen.“ Duchac führt das aber auch auf einen psychologischen Aspekt zurück: Die Idee, die Hände frei zu haben, sei grundsätzlich sehr positiv besetzt.
Was ihn besonders freut ist die Tatsache, dass diese Gespräche auch immer wieder zu spannenden Erweiterungs-Ideen führen. Immer wieder etwa komme die Frage auf, ob man die Kamera des HMT-1 durch einen Laser ersetzen kann. „Wir hören hier sehr gut zu“, sagt Duchac, „ich kann mir durchaus vorstellen, dass wir einzelne Teile des Geräts auch modular ersetzbar gestalten werden.“
Es sei ja kein Zufall, dass hinter dem „HMT“ noch „1“ folgt.
The Next Generation
Die Goldformel von Thomas Kirchner lautet 1.000 mal 1.000. Rund tausend Mal muss bei der Produktion eines Autos protokolliert werden, dass der richtige Teil am richtigen Ort eingebaut wurde. Und rund tausend Autos pro Tag werden in den Fabriken der meisten Hersteller zusammengesetzt. Das ergibt eine satte Million Protokollierungsvorgänge pro Tag. Scanner in die Hand nehmen, scannen, weglegen oder, noch schlimmer, unter den Arm klemmen, weiterarbeiten – pro eigebautem Teil gehen dafür gut und gerne drei bis vier Sekunden drauf.
Die könnte man einsparen, dachte sich Kirchner vor inzwischen gut vier Jahren, wenn man einen Handschuh baut, mit dem der Werker den gewünschten Teil in einem Schritt sowohl greifen als auch dokumentieren kann. Erste Versuche in diese Richtung gab es ja bereits: Fingerscanner, die aber letztlich alle an ihrer eher schwachen Usability scheiterten.
Hebelwirkung
Der Durchbruch gelang mit der Idee, den Scanner auf einem Handschuh anzubringen. Und den Handschuh so auszustatten, dass er dem Werker per akustischem Signal eine Rückmeldung gibt, ob er den richtigen oder falschen Teil erwischt hat, und ob er ihn richtig oder falsch eingebaut hat. Die Hebelwirkung einer solchen Verbesserung ist gigantisch: hunderte von Stunden an eingesparter Arbeitszeit und gleichzeitig eine massive Senkung der Fehlerquote, tendenziell gegen null.
2016 ging der Handschuh, der den schlichten Namen „Mark“ trägt, in Serie. Inzwischen beliefert ProGlove, wie das von Kirchner und seinen drei Mitstreitern Paul Günther, Jonas Girardet und Alexander Grots gegründete Unternehmen heißt, 250 Kunden in ganz Europa und ist dabei, nach Nordamerika zu expandieren. Neben der Automotive-Branche zählen auch Großhandelsunternehmen und Flughäfen zu den Abnehmern von ProGlove. Bei Ikea zum Beispiel ist der Handschuh sowohl in den Lägern der klassischen Shops im Einsatz als auch in der Logistik des Online-Geschäfts.
Doch die Möglichkeiten des Handschuhs, findet Thomas Kirchner, er ist der CEO von ProGlove, sind noch lange nicht ausgeschöpft: „Woran wir derzeit arbeiten, ist ein neues Modell, das komplexeres Feedback geben kann. Derzeit kann der Handschuh nur Ja-Nein- bzw. Falsch-Richtig-Antworten liefern. Wir möchten ihn daher mit einem mobilen Armdisplay verbinden, dann könnte dann auch detailliertere Anweisungen liefern.“
Nah am Hirn
Gelingt das, könnte das Handschuh-System eine spannende Alternative zu Datenbrillen werden. „Datenbrillen sind im Prinzip auch nichts anderes als mobile Displays, allerdings glauben wir, dass Armdisplays die ergonomisch bessere Lösung bieten und daher auch größere Akzeptanz erreichen können“, sagt Kirchner. Tatsächlich werden Datenbrillen trotz der ständigen Verbesserungen, die an ihnen vorgenommen werden, von vielen Nutzern immer noch als zu klobig und damit störend erlebt. Sie einen ganzen Arbeitstag tragen zu müssen, empfinden viele Werker als unangenehm. „Das ist nicht verwunderlich, die Nerven am Kopf sind besonders empfindlich, schließlich liegen sie besonders nah am Hirn“, sagt Kirchner.
Dass das neue mobile Display – dem Vernehmen nach soll es „Katharina“ heißen – in seinem Leistungsumfang überdimensioniert ausfällt, ist bei allem Ehrgeiz, den die ProGlove-Leute in seine Entwicklung stecken, nicht zu befürchten. Denn schon bei dem weiten Weg, den „Mark“, das erste Modell, vom Prototyp bis zur Serienreife durchmachen musste, war die Tendenz der Entwicklung klar: abspecken, abspecken, abspecken. Ganz frei nach dem Motto, dass etwas nicht dann perfekt ist, wenn man nichts mehr hinzufügen kann, sondern, wenn nichts mehr weggenommen werden kann.
Bei Prototyp Nummer siebzigundetwas war „Mark“ dann praxistauglich. „Wir hatten durch unsere Anbindung an die TU München aber auch den Vorteil, dass wir durch diese Schiene unsere Prototypen von Anfang an im realen Umfeld von Industrieunternehmen testen konnten“, erzählt Kirchner.
Kostenkiller
Tests und Simulationen liebt auch Frank Lampe, Senior Vice President bei Ubimax. Als zahlenaffiner Mensch kann Lampe dabei auch sehr exakt durchrechnen, wie schnell sich die Investition in die Order-Picking-Lösung seines Unternehmens rentieren kann. Lampe blickt kurz von seinem Bildschirm auf und sagt: „Bei durchaus realistischen 15.000 Picks pro Tag, 260 Arbeitstagen im Jahr und einem Stundenlohn von 15 Euro inklusive Abgaben hat sich eine Lösung, die auf zehn Kommissionierer ausgelegt ist, innerhalb von neun Monaten und 29 Tagen amortisiert.“
Die Technik, die diese Kostenkiller-Rechnung plausibel macht, ist eine Verbindung von Soft- und Hardware oder genauer gesagt eines Warehouse-Management-Systems mit einer Brille. Der entscheidende Punkt dabei: Die Datenbrille wird nicht bloß linear mit Daten gefüttert, sondern das System priorisiert die Aufträge so, dass sie möglichst effizient abgearbeitet werden können. „Wenn die Aufträge bloß der Reihe nach als ein Ticker auf die Brille kommen, kann es leicht passieren, dass der Werker den gleichen Weg zwei oder drei Mal machen muss, obwohl es mit einem Mal auch ginge“, erklärt Lampe.
Was die Ubimax-Lösung außerdem von ähnlichen Lösungen unterscheidet, ist ihre Agilität. So lässt sich die Anwendung über den Frontline-Creator mit wenigen Klicks ohne Programmierkenntnisse neu konfigurieren und per WLAN direkt in der geänderten Version auf die Datenbrille übertragen. „Gerade bei Kunden, deren Workflows sich häufig ändern, weil neue Pickstationen dazu kommen oder neue Bearbeitungsschritte während des Kommissionierens nötig werden, ist das ein sehr wichtiger Punkt“, sagt Lampe.
Fernwartung
Zur Effizienzsteigerung trägt das System aber auch durch Zusatzmodule bei, die auf die Vermeidung von Fehlern ausgerichtet sind wie etwa Gewichtsüberprüfung, Barcode-Scan oder die Lokalisierung der Objekte. Bei der, wie Lampe aus Kundengesprächen weiß, durchaus moderaten Annahme, dass ein Pick-Fehler Kosten von fünf bis sieben Euro verursacht, kann schon die Halbierung der Fehlerquote über das Jahr gerechnet beträchtliche Einsparungen bringen. Vom Mehrwert durch höhere Kundenzufriedenheit einmal abgesehen.
Bei DHL Supply Chain ist die xPIck-Lösung von Ubimax daher inzwischen im Standardeinsatz. Das Unternehmen setzt sie in immer mehr Lägern weltweit ein. Die Datenbrillen blenden dabei Arbeitsanweisungen ein und zeigen dem Werker, wo sich der als nächstes zu pickende Artikel befindet und wo er zu positionieren ist. Eine kürzlich veröffentlichte Zwischenbilanz spricht von auf diese Weise erreichten Produktivitätssteigerungen von 15 Prozent. Bei Schnellecke Logistics Werk in Wolfsburg, einem Unternehmen, das auf Modulmontage und die Belieferung der Fertigungslinien in der Automobilindustrie spezialisiert ist, führte die Einführung des Systems zu einer Geschwindigkeitssteigerung von 25 Prozent.
Zugleich ist das xPick-System mit anderen Lösungen von Ubimax kombinierbar, die zum Beispiel die Fernwartung von Förderfahrzeugen, aber auch die Dokumentation durch die Kamera der Datenbrille ermöglichen. Logistiker können damit bei besonders heiklen Aufträgen dem Kunden gegenüber belegen, dass seine Sendung ordnungsgemäß verpackt wurde. Oder zu einem Schadensprotokoll Bilder hinzufügen. Oder in all jenen Wartungsfällen, in denen der Techniker vor Ort nicht mehr weiterweiß, Unterstützung per bidirektionalem Videoanruf holen. Und das, sagen Wearable-Experten, ist erst der Anfang.