Forschung : Die Kraft der Crowd
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Bis zu 160.000 Pkw sind täglich auf der Wiener Südosttangente unterwegs. Durchschnittliche Zahl der Insassen laut Statistik: 1,46. Man kann es auch mit den Augen eines Logistikers sehen: Geht man davon aus, dass die meisten Kofferräume nahezu leer sind, entspricht deren kumuliertes Volumen rund 430 leeren Lkw pro Tag. Die freien Rückbänke nicht eingerechnet.
Könnte man dieses gewaltige Volumen für den Warentransport im Industrie-Umfeld nutzen? Ohnehin schon stattfindenden privaten Fahrten also einen weiteren Sinn geben, sowohl ökologisch als auch betriebswirtschaftlich? Mit dem Forschungsprojekt „StandPI“ haben sich die Forscher von Fraunhofer Austria auf die Suche nach einem entsprechenden Modell begeben.
Verlagerung in die Crowd
„Natürlich geht es um Nachhaltigkeit, aber auch um Entlastung bereits bestehender logistischer Systeme“, sagt Alexander Gruber, der das Projekt gemeinsam mit Patrick Taschner verantwortet. Die Südosttangente ist in den Augen der beiden Fraunhofer-Forscher nicht nur wegen des hohen Verkehrsaufkommens ideal für das Projekt geeignet: Die meisten Pkw-Fahrten auf der A23 sind solche zwischen Wohn- und Arbeitsort, werden also regelmäßig zurückgelegt.
Genau hier setzt StandPI an. Das Ziel ist die Entwicklung eines Algorithmus, der den Bedarf von Industriesendungen mit dem Angebot des Leerraums in Pkw verknüpft, die ohnehin bereits auf der Straße unterwegs sind. Also die Verlagerung eines Teils der Dienstleistung in die Crowd.
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Die Sicht der Industrie
Die Daten, mit deren Hilfe der Algorithmus dazulernen wird, sind zum Teil allgemein zugängliche wie Verkehrsaufkommen, Wetterbedingungen, Ferienzeiten oder Stauwahrscheinlichkeit. Aber auch künstlich generierte Transportaufträge auf der Basis von Erfahrungswerten fließen ein. Diese, sowie die Anforderungen eines verladenden Unternehmens bringt das Logistikzentrum von Schrack Technik in Achau als Projektpartner in den Algorithmus mit ein, an dem das Institut für Logic and Computation der TU Wien seit rund einem Jahr arbeitet.
„Ein Unternehmen wie Schrack Technik ist der klassische Stakeholder für ein solches System“, sagt Projektleiter Alexander Gruber. Im Logistikzentrum gehen Bestellungen oft abends ein, benötigt werden viele Lieferungen kurzfristig. Ab einem gewissen Zeitpunkt ist das nur noch mit Expressdiensten möglich. Das ist teuer und – wenn nur eine Lieferung unterwegs ist – nicht nachhaltig. „Wir nehmen also die Sicht des Industrieunternehmens ein“, sagt Gruber, „denn ein solches System wird ja nur etabliert, wenn das Unternehmen einen gewissen Anteil der Lieferungen garantiert an die Crowd verlagern kann.“
Was will die Crowd?
Wissen über die Crowd und die Plattform bringt Checkrobin in das Projekt ein, also ein Unternehmen, das über seine „Myrobin“-Schiene Crowdsourcing Delivery im Person-2-Person-Bereich bietet. Welche Anforderungen haben die Crowd Members, um ein Paket zu übernehmen? Welche Umwege sind sie zu fahren bereit? Und wie wollen sie incentiviert werden? Gegenüber der P2P-Welt gibt es allerdings einen wesentlichen Unterschied, betont Patrick Taschner: „Bei P2P stellt man einen Auftrag ins Netz, und die Crowd Members melden sich darauf. Wir müssen aber von der anderen Seite kommen, da man sonst niemals die Stabilität erreicht, die das System benötigt. Wir müssen wissen, wie viele Members wann welche Route befahren. Dann kann der Versender die Pakete einbuchen.“
Um die Bereitschaft zu erheben, an einem solchen System teilzunehmen, führen die Projektpartner derzeit gemeinsam mit dem aspern.mobil Lab eine Umfrage unter österreichischen Pkw-Haltern durch.
Doppelter Anreiz
Ökonomie und Ökologie sind nicht nur im Projekt-Ansatz vereint – sie spiegeln auch die Intentionen der Stakeholder. „Für die Versender muss sich Crowdsourcing Delivery rechnen, das ist ganz klar die Priorität“, sagt Alexander Gruber. Eine relativ hohe Hürde sind hier die Distanz-unabhängigen Flatrates, die Businesskunden üblicherweise bei Speditionen genießen. Ganz ohne ökonomischen Anreiz dürfte es aber auch schwierig sein, genügend Crowd Members zu gewinnen.
Den ökologischen Antrieb will Gruber allerdings nicht unterschätzt wissen. „Natürlich ist Nachhaltigkeit oft ein Marketingtool – was ja den positiven Effekt nicht diskreditiert. Ich denke aber, dass sowohl bei Unternehmen als auch in der Bevölkerung die Notwendigkeit, unsere Wirtschaft und Logistik nachhaltiger zu gestalten, immer stärker empfunden wird. Vor allem für die Jungen wird dieser Aspekt immer wichtiger. Die würden als Kunden sofort auf den ‚Crowd‘-Button drücken, wenn sie wissen, dass es funktioniert.“
Sollte das ökologische Bewusstsein dann auch noch durch legistische Maßnahmen gefördert werden – wie eine CO2-Steuer oder Umweltkonten für Unternehmen oder sogar für Bürger – bekäme ein Konzept wie Crowdsourcing Delivery ohnehin Rückenwind.
Kein Vollzeitjob
Bis sich dieses Konzept materialisiert, sind aber noch mehrere Hürden zu nehmen. Die Frage etwa, inwieweit sich Crowd Members an der Grenze des Gewerbes bewegen. „Es darf natürlich auf keinen Fall passieren, dass durch Crowdsourcing Delivery künstlich neue Fahrten entstehen“, betont Patrick Taschner, „das darf kein Vollzeitjob werden.“ Dies zu überprüfen, wäre allerdings im System selbst implementiert: Ein Tracking der Fahrten – natürlich mit Zustimmung der Pkw-Fahrer – würde schnell zeigen, ob es sich dabei wirklich um alltägliche Wege handelt. Hinzu müsste wohl eine Beschränkung von Zeit oder Weg pro Monat treten.
Zu klären wäre auch die Frage der Haftung für die Sendungen, wobei Patrick Taschner davon überzeugt ist, dass diese nie bei den Members liegen werde, sondern jedenfalls beim Versender oder beim Plattformbetreiber.
Kompletter Stakeholder-Katalog
Mit Abschluss des Forschungsprojekts im Frühjahr 2022 soll neben dem Algorithmus auch ein kompletter Stakeholder-Katalog stehen. Ob dann jemand ein Geschäftsmodell daraus entwickelt, muss sich zeigen.
Für die beiden Fraunhofer-Forscher ist StandPI ohnehin nur eine Art erster Schritt. „Wir simulieren derzeit nur die Möglichkeiten, die sich im Zusammenhang mit Pkw ergeben“, sagt Alexander Gruber. „Aber die Menschen sind auch mit dem Zug unterwegs, zu Fuß, mit dem Fahrrad oder der U-Bahn.“ Sollten Restriktionen im innerstädtischen Verkehr greifen und in der Folge vermehrt kleine Verteilzentren außerhalb der Städte entstehen, so könnte Crowdsourcing Delivery einen Teil der Feinverteilung übernehmen. „Uns ist natürlich klar, dass Crowdsourcing Widerstände hervorruft“, sagt Patrick Taschner, „aber wenn der Wille der Bevölkerung da ist, kann man das auch umsetzen.“
Das Projekt
Forschungsprojekt: StandPI – Systemübergreifende Steuerung von Transport- und Intralogistik zur nachhaltigen Distribution im Physical Internet
Projektkoordinator: Fraunhofer Austria Research GmbH
Projektpartner: Technische Universität Wien, Institut für Logic and Computation; Johann Weiss Gesellschaft m.b.H.; Schrack Technik GmbH; checkrobin GmbH
Laufzeit: 01.04.2019–31.03.2022
Programm/Ausschreibung: FFG; Mobilität der Zukunft, MdZ – 10. Ausschreibung (2017)