dispo: Herr Tengler, Herr Gluttig, Sie haben die Gründung Ihres Beratungsunternehmens mit steigenden Kunden- und Qualitätsansprüchen begründet. Steckt in dieser Aussage ein kleines „Giftl“?
Andreas Tengler: Nein, die Gründung von TenglerGluttig ist einerseits die Konsequenz daraus, dass unsere Strategie mit jener des neuen Eigentümers unseres bisherigen Arbeitgebers nicht übereinstimmt. Andererseits erfahren wir in vielen Kundengesprächen von den tatsächlichen, alltäglichen Herausforderungen der Unternehmen. Kurzfristige Optimierung und Restrukturierung treten zugunsten nachhaltiger, mittelfristiger Effizienzsteigerung in den Hintergrund.
Warum ist das so, meinen Sie?
Gregor Gluttig: Die Gegebenheiten im B2C-Bereich färben auch auf die Industrie ab: Deren Kunden verlangen vermehrt kurzfristige Lieferung, volle Transparenz und unterschiedliche Lieferservices. Hinzu kommt die enorm ansteigende Produktvielfalt, und durch diese vergrößert sich die Komplexität. Viele Unternehmen kämpfen mit stark steigenden Beständen.
Das Um und Auf in diesem Zusammenhang ist die Planung, das Forecasting. Perfekt integriertes Forecasting ist die Grundlage, um Schwankungen in der Produktionsplanung, der Bestandsplanung oder der Rohstoffplanung abfedern zu können. Hierfür haben wir erprobte Tools, Prozesse und Methoden, die wir in der Industrie einsetzen.
Tengler: Wobei uns der Einsatz technologischer Entwicklungen natürlich Möglichkeiten bietet, die noch vor ein paar Jahren undenkbar waren.
Wenn sich die Anforderungen an Ihre Kunden verändern, dann wohl auch deren Anforderungen an Sie?
Gluttig: Richtig. Früher ging es bei Beratungsprojekten oft darum, Komplexität zu reduzieren. Und die Antwort war meist beinhartes Tailcutting. Heute verlagert es sich in Richtung des Managens von Komplexität: Wie bringe ich die technologischen Möglichkeiten in meinem Unternehmen unter, um die Produktvielfalt, die kurzfristigen Lieferzeiten oder die Schwankungen im Absatz in den Griff zu bekommen? Die Lösung liegt im verantwortlichen, vorausschauenden Portfolio-Management statt in kurzfristigen Portfolio-Kürzungen.
Das sehen die verschiedenen Bereiche in den Unternehmen wohl unterschiedlich?
Tengler: Ja, logischerweise. Der Vertrieb ist versucht, das Portfolio aufzublasen. Und dann kommt eben alle paar Jahre jemand und kürzt wieder. Natürlich ist Komplexität ein massiver Kostentreiber, aber heutzutage, vor allem im Commodity-Bereich, eben auch ein Vorteil, da man flexibel möglichst viel anbieten kann.
Wie sieht es eigentlich mit dem Vorurteil aus, dass die großen Unternehmen ihre Supply Chain im Griff haben, während es bei den kleineren eher nicht so gut aussieht?
Tengler: Hier verändert sich viel. Vor allem der Preisverfall im Technologiebereich macht es auch dem Mittelstand möglich, Spitzentools einzusetzen.
Gluttig: Die großen Organisationen haben schon vor Jahren damit begonnen, echtes Supply Chain Management einzuführen. Der Mittelstand zieht jetzt deutlich nach. Nicht nur die Möglichkeiten haben sich verbessert, auch das Bewusstsein für das Thema.
Tengler: Das bemerkt man übrigens auch auf dem Arbeitsmarkt. Versuchen Sie mal, einen Supply Chain Manager zu bekommen! Keinen Produktionsplaner oder Logistiker, sondern jemanden, der wirklich im Zentrum agiert und die Fäden ziehen kann. Und der im Idealfall auch noch mit der IT-Abteilung harmoniert. Verfügbare Leute sind sehr rar geworden.
Die Schnittstellen zwischen den Abteilungen sind oft die Sollbruchstellen, nehme ich an?
Gluttig: Ja, vor allem, wenn es um die interne Supply Chain geht. Viele Abteilungen versuchen, Sicherheitspuffer aufzubauen, weil sie den anderen einfach nicht glauben. Oft ist es doch so: Die Finanz gibt in Abstimmung mit dem Management den Rahmen für das Budget vor. Dann stoßen verschiedene Interessen der einzelnen Bereiche aufeinander, jene des Vertriebs mit den Absatzzielen oder die Ziele des Einkaufs beziehungsweise die Interessen der Produktion hinsichtlich Mengen und Material.
Tengler: Auch dem wirkt die technologische Entwicklung entgegen. Die Einrichtung echter Control Towers, die in ihrer Planung immer weiter aus dem Unternehmen selbst hinausgreifen – bis hin zur Rohstoffbeschaffung auf der einen und zu den Endkunden auf der anderen Seite. Und das bedeutet: Ganze Ebenen an Logistikplanung entlang der Supply Chain werden verschwinden.
Sie erzählen mir gerade, dass die Speditionen ein Problem bekommen?
Gluttig: Die meisten ahnen nicht, was da auf sie zukommt – woran die Industrie derzeit arbeitet. Wir werden immer häufiger beauftragt, auch die Möglichkeiten von Insourcing zu überprüfen – bis hin zur Idee, eigene Lkw anzuschaffen. Das war vor einigen Jahren noch unvorstellbar, aber nun wird es evaluiert, weil die Unternehmen die Kernkompetenz „Last Mile“ wieder selbst in der Hand haben möchten.
Insourcing betrifft nicht nur die Transporte selbst, sondern vor allem die gesamte Planung, somit die Steuerung der Lieferkette. Dafür wird massiv in IT-Systeme, wie in bereits genannte Control Towers, investiert.
Tengler: Und vieles geht in Richtung vorausschauender Vorratshaltung. Siehe Amazon: Die wissen schon erstaunlich genau, was sie demnächst wo benötigen werden.