Wearables : Exoskelette: "Unternehmen müssen kritischer werden"
dispo: Herr Lechner, werden Exoskelette in der Industrie zunehmend zu einem Thema?
Norbert Lechner: Den Eindruck habe ich, ja. Es gibt immer mehr Anbieter, die ihre Produkte an die Unternehmen herantragen und sie diesbezüglich beraten. Manchmal greift das in meinen Augen aber zu kurz. Es reicht nicht, sich eine Minute lang die Abläufe im Logistikbereich anzusehen, um dann qualifiziert ein Exoskelett anzubieten. Denn das ist eben keine Arbeitsplatzevaluierung.
Wie erfasst man denn, ob Exoskelette tatsächlich Erleichterung oder verminderte Beanspruchung bringen?
Lechner: Es gibt einerseits natürlich das subjektive Empfinden der Mitarbeiter, die beurteilen, ob sie sich mit oder ohne Exoskelett wohler fühlen. Objektiv kann man eine Wirksamkeit nur mit biomechanischen Messsystemen wie spezieller Video- und Bewegungsanalyse feststellen.
Wir arbeiten seitens der AUVA mit Motion Capturing. Hier werden Videoaufnahmen der Tätigkeiten mit physiologischen Messwerten synchronisiert und interpretiert. Inertialsensoren detektieren etwa Gelenkwinkel, Bewegungstrajektorien und veränderte Bewegungsabläufe. Sensoren für Oberflächen-Elektromyographie erfassen das elektrische Potenzial der Muskulatur, und man misst Anspannung, Aktivität und kann in weiterer Folge auf die Ermüdung ableiten. Bei schwerer dynamischer Arbeit kann man eventuell auch durch Erfassung der Sauerstoffaufnahme oder Herzfrequenz eine Entlastung feststellen.
Eine veränderte Bandscheibendruckkraft, die bei Hebetätigkeiten als Maß aller Dinge gilt, lässt sich jedoch nicht messen.
Die Anbieter berufen sich aber doch auf entsprechende Studien?
Lechner: Das stimmt schon, zumindest die großen Anbieter haben Studien, die meist auf Oberflächen-Elektromyographie basieren. Aber so untersucht man immer nur punktuell ausgewählte Muskeln, und das an der Oberfläche. Tieferliegende Muskelgruppen, die für die so wichtige Stabilität zuständig sind, können nicht erfasst werden. Zudem gilt die Frage: Was wird mit EMG überhaupt erfasst? Die Aktivität des Muskels, die Anspannung, Muskelkoordination, oder die Ermüdung?
Bei vielen Tätigkeiten wie beim Heben von Lasten kann es zu sehr vielen Bewegungsrichtungen kommen, und viele Muskelpartien können beteiligt sein, unser Körper besteht immerhin aus Muskelschlingen. Das gilt es vor der Untersuchung zu beachten, wie danach, wenn es vielleicht zu veränderten Bewegungsabläufen kommt. Zudem wirken Exoskelette keine physikalischen Wunder, eine Kraft wird durch die Exoskelette ja nicht null, sie wirkt nur woanders.
Was ich sagen will: Es kann gar keine Studien geben, die eine generelle Aussage für bestimmte Tätigkeiten oder bestimmte Exoskelette treffen – es bedarf immer einer eingehenden Evaluierung des Einzelfalls.
Ich nehme an, Studien zu Langzeitwirkungen gibt es überhaupt noch nicht?
Lechner: Richtig, dazu gibt es noch keinerlei Erkenntnisse, das muss an dieser Stelle ganz deutlich gesagt werden.
Wie werden denn physische Belastungen am Arbeitsplatz grundsätzlich bewertet?
Lechner: Eine Lastenhandhabungsverordnung wie in Deutschland gibt es in Österreich nicht. Stattdessen werden Arbeitsplätze, an denen etwa schwer gehoben wird, anhand der Leitmerkmal-Methode evaluiert. Diese Checkliste für Heben, Halten und Tragen von Lasten erfasst, welche Massen wie oft gehoben werden, Lastaufnahmebedingungen, Körperhaltung und Umgebungsbedingungen.
Damit bewerten auch die Sicherheitsfachkräfte oder Arbeitsmediziner den Arbeitsplatz. Ist ein Exoskelett im Einsatz, können Checklisten wie die Leitmerkmalmethoden nicht mehr zur Gefährdungsbeurteilung eingesetzt werden. Das spielt den Anbietern natürlich extrem in die Karten.
Wie ist der Einsatz von Exoskeletten rechtlich geregelt?
Lechner: Sobald ein Exoskelett im Einsatz ist, gilt es als Arbeitsmittel, also greift die Arbeitsmittelverordnung. Und es muss eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt werden. Spezifische Vorgaben für Exoskelette gibt es derzeit allerdings nicht wirklich. Methoden, die die tatsächliche physische Belastung messen können, wie etwa Motion Capturing, sind nicht vorgeschrieben. Das ist ein Problem. Ein Exoskelett ist auch keine persönliche Schutzausrüstung, da die Wirkung nicht bewiesen ist.
Sind Sie wegen negativer Folgen für die Gesundheit besorgt?
Lechner: Ja, definitiv. Verstehen Sie mich nicht falsch: Exoskelette haben das Potenzial zur Entlastung, aber sie werden leider oft fehl am Platz eingesetzt. Man muss jeden Fall individuell und sehr sorgfältig betrachten, und das geschieht oft nicht. Meine Sorge ist, dass manche Unternehmen viel zu schnell auf diesen Zug aufspringen.
Wie ist denn Ihr Verhältnis zu den Betrieben? Sind Sie der Spielverderber?
Lechner: Mir ist schon klar, dass die AUVA von vielen als Bremser gesehen wird. Gleichzeitig wollen die Unternehmen aber innovativ sein, und es starten ja auch immer mehr Projekte, bei denen die Exoskelette von vorneherein als leistungssteigernd verkauft werden. Diese Sichtweise gehört ein bisschen zurechtgerückt. Ein Exoskelett soll entlasten und niemals die Leistung steigern! Meine Mission ist bestimmt nicht, Exoskelette zu verhindern. Ich will aber, dass die Unternehmen kritischer werden.
Zur Person
Der studierte Sportwissenschaftler Norbert Lechner ist im Fachbereich Ergonomie der Präventionsabteilung der AUVA tätig und arbeitet mit diversen digitalen Technologien wie Motion Capturing, Eye Tracking, Virtual & Augmented Reality zur Prävention von arbeitsbedingten Muskel-Skelett-Erkrankungen und Unfällen.