50 Jahre dispo : „Geben wir ihn in den Einkauf, da kann er nichts falsch machen“
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dispo: Herr Pechek, was waren um 1969 Funktion und Selbstverständnis des Einkaufs?
Heinz Pechek: Bis in die 1970er-Jahre hatten Einkäufer oft nicht den Stellenwert im Unternehmen, der ihnen Kraft des Verantwortungsrahmens eigentlich beigemessen werde sollte. Einkäufer waren oft nur „Erfüllungsgehilfen“ der Produktion oder der Entwicklung, die ja bis zu 95 Prozent der Herstellkosten beeinflusst und wo die Hebelwirkung des Einkaufs am größten ist. „Erfüllungsgehilfen“ anderer, die ihnen gesagt haben, was sie bei wem bestellen sollen. Einkäufer haben häufig fast nur Bestellungen abgewickelt, also reine Administration. Natürlich haben sie Preise, Konditionen, Lieferzeiten und Qualitäten verhandelt und konnten mit der Andler‘schen Losgrößenrechnung umgehen, aber viel mehr war in den meisten Unternehmen, vor allem im Mittelstand, nicht üblich.
Aber manche dachten anders?
Pechek: Ja, es gab auch echte Vorreiter, die extrem fortschrittlich dachten und agierten. Einer davon war der damalige Einkaufschef von Semperit, Aimé Wouwermans. Ein gutes Beispiel war das erste vollintegrierte „digitale“ Bestellsystem mit „Kommunikation in Echtzeit“: die Pendelkarte, eine Lagerfachkarte, die bei Erreichen des Richtbestands beziehungsweise Bestellbestands mit allen Daten in den Einkauf zur weiteren Prozessabwicklung und -steuerung weitergereicht wurde. Aber selbst in den 80er-Jahren habe ich noch Unternehmen gekannt, die die Erfolgsmessung des Einkaufs an der Zahl der Bestellanforderungen orientierten.
Und das Image des Einkaufs?
Pechek: Ich werde nie die Antwort eines Personalchefs vergessen, dem man meldete, dass ein Mitarbeiter im Lager Rückenbeschwerden hatte und nichts mehr heben konnte. Seine Antwort war: „Geben wir ihn doch in den Einkauf. Da muss er nichts heben. Und falsch machen kann er da auch nichts.“
Und wann hat sich das geändert?
Pechek: Genau in dieser Zeit hat es begonnen. Im Österreichischen Produktivitäts-Zentrum ÖPZ, heute ÖPWZ, habe ich damals die Arbeitsgemeinschaft Einkauf übernommen. Der damalige Präsident Aimé Wouwermans hat die Meinung vertreten, dass es eben nicht ausreicht, nur „Bestellungen zu schreiben“. Vorreitern wie ihm ist es zu verdanken, dass in den Unternehmen die „Integrierte Materialwirtschaft“, also die Zusammenführung von Planung, Disposition, Einkauf, Transport, Lager, Bestandsführung zu realisieren ist, wenn die Hebelwirkung des Einkaufs zum Tragen kommen soll. Ab den späten 70er-Jahren wurde immer klarer: Der Einkauf ist ja viel mehr! Ihn als betriebliche, heute würden wir sagen: wertschöpfende Funktion zu etablieren, ist das historische Verdienst von Wouwermans und anderen Pionieren dieser Zeit.
Wie sehen Sie denn heute diese betriebliche Funktion?
Pechek: Ab Mitte der 70er-Jahre hat sich sukzessive die Erkenntnis durchgesetzt, welch ein mächtiger Hebel der Einkauf für den Unternehmenserfolg ist. Aber nur, wenn man auch sein Selbstverständnis und seine Kompetenz erweitert. Einkäufer müssen nicht nur kaufmännisch-betriebswirtschaftlich, sondern auch technisch-technologisch ausgebildet sein. Sie müssen dabei drei Technologien beherrschen: die Technologie des eigenen Unternehmens, jene des Kunden und jene des Lieferanten. Einkäufer müssen sich gewissermaßen ein Stück weit vom Lieferanten „verabschieden“ und sich intensiv um den Kunden kümmern: Was macht der Kunde eigentlich mit dem, was ihm mein Unternehmen liefert? Einkäufer müssen zum Kunden, müssen mit seiner Fertigung reden, seinen Bedarf verstehen.
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Wie waren denn die Reaktionen der Unternehmen auf diese Ideen?
Pechek: Die Reaktionen fielen sehr unterschiedlich aus. Viele waren begeistert und haben an der Entwicklung mitgearbeitet, manche etwas weniger: „Der Einkauf soll einkaufen und sich nicht um anderes kümmern, dafür haben wir ihn ja“. Diskrepanzen gab es sogar innerhalb von Konzernen. Eine Firma, die ich ein Stück des Weges begleiten durfte, hatte zwei Vorstands- & Geschäftsfeldbereiche für Produktion. Wir führten damals die Trennung zwischen strategischem und operativem Einkauf ein und verlagerten den operativen Bereich in produktionsnahe Bereiche. In dem einen Bereich war man begeistert von der Idee, dass Einkäufer sich um strategische Aufgaben und Schlüssellieferanten kümmern und damit die Zukunft sichern und Ertrag beeinflussen können. Im anderen war man der Meinung, „die sollen gefälligst bestellen, was wir ihnen sagen.“
Sie müssen sich das damalige Umfeld so vorstellen: Ich kannte ein Unternehmen, da lief vor einer Bestellung ein Genehmigungsprozess mit bis zu zwölf Unterschriften. Natürlich war klar, dass man das abstellen musste. Aber auch unter führenden Einkaufs-Chefs gab es unterschiedliche Geschwindigkeiten. Ich erinnere mich an die Reaktion eines Einkaufs-Chefs eines anderen, sehr bedeutenden Unternehmens auf meinen Vorschlag, stärker auf EDV zur Prozessabwicklung und -beschleunigung zu setzen: „EDV im Einkauf? Kommt ja nicht infrage, ist doch viel zu kompliziert. EDV ist gut für Buchhaltung und Lohnverrechnung.“
Hat man Mitarbeiter gefunden, die mit dieser erweiterten Definition von Einkauf arbeiten konnten?
Pechek: Vor den 70er- und 80er-Jahren gab es ja im Grunde keine Ausbildung für Einkäufer. Im Einkauf arbeiteten damals häufig Absolventen einer kaufmännischen Lehr-Ausbildung, manchmal HTL-Absolventen. Wir haben damals die erste Einkäufer-Akademie nach deutschen und schweizerischen Maßstäben gegründet, um den Bedarf an qualifizierten Einkäufern und Einkäuferinnen zu decken. Akademiker, egal ob Techniker oder Betriebswirte, gab es damals im Einkauf nahezu überhaupt nicht, wenn, dann nur in Leitungsfunktionen, und vereinzelt eben HAK- oder HTL-Absolventen. Erst ab den 80er-Jahren sind die ersten Akademiker zu dieser für die Zeit extrem umfassenden und anspruchsvollen Aus- und Weiterbildung dazugestoßen.
Und heute?
Pechek: Ich denke, dass sowohl an den Universitäten als auch den Fachhochschulen einiges, mancherorts auch sehr viel passiert ist – aber natürlich könnte es immer noch mehr sein. Immerhin wird aber das Thema Einkauf heute nicht mehr als Nebenschauplatz der Logistik-Ausbildung gesehen. Dass wir als BMÖ heute der nahezu einzige Verband in Europa sind, der einen eigenen MBA für den Einkauf, den MBA Strategic Purchasing & Supply Chain Management mit der Graduierung durch die Middlesex University London anbietet, erfüllt mich doch auch mit einiger Zufriedenheit auf unsere Aufbauarbeit.
Die Entwicklung hat auch dazu geführt, dass das Standing des Einkaufs in Unternehmen heute ein anderes ist?
Pechek: Ja, wobei die generelle Professionalisierung in allen Disziplinen die sinnlosen Diskussionen, welche Abteilung die wichtigste sei, zum Glück beendet hat. Wenn der Einkauf professionell und ergebnisorientiert arbeitet, dann wird er im Unternehmen, in der Geschäftsleitung und in der Technik und Produktion nicht nur wahrgenommen, sondern als Leistungsträger und Wertschöpfungspartner auf Augenhöhe geschätzt. Motto: „Bevor wir mit dem Projekt anfangen, müssen wir mit unserem Einkauf sprechen.“
Und die aktuelle Entwicklung der Digitalisierung – Stichwort: Einkauf 4.0, Digital Procurement und Agiler Einkauf – trägt dazu ja auch das ihre bei. Der Einkäufer der Zukunft ist mehr noch als bisher Schnittstellenmanager zwischen Kunde, Unternehmen und Lieferant, der Manager der End-to-End Supply Chain, aber auch Digital Procurement Leader.
Was muss ein guter Einkäufer denn in Ihren Augen können?
Pechek: Viel, unendlich viel. Er muss über breite, nicht unbedingt tiefe IT-Kenntnisse und -Verständnis verfügen, technik- und technologieorientiert sein und über betriebs- und volkswirtschaftliche Kenntnisse verfügen. Und er muss über ausreichend kommunikative und dazu auch digitale Kompetenzen verfügen. Er muss flexibel, ziel- und lösungsorientiert sein – ein Grund, warum Frauen oft die „besseren“ Einkäufer sind. Vor allem aber: Die Einkäuferin, der Einkäufer muss neugierig sein. Ohne Neugier und Aufgeschlossenheit keine Veränderung, und ohne Veränderung geht gar nichts – schon gar nicht im Einkauf der Zukunft.