„Es kann sicher keiner behaupten, die Thematik in Gänze zu beherrschen.“ Marco Schmitz, Leiter der Materialplanung bei Reyher, einem Hamburger Großhändler für Verbindungselemente und Befestigungstechnik, meint damit die künstliche Intelligenz. Das noch ausbaufähige Verständnis hat das Unternehmen aber keineswegs davon abgehalten, entscheidungsintelligente Algorithmen für seine Bestandsoptimierung zu implementieren. Den Schritt hat man seither auch nie bereut. Braucht es möglicherweise gar kein umfassendes Verständnis für Künstliche Intelligenz, um sie dennoch zu benutzen? Ist ein solches Verständnis überhaupt möglich? „Dafür sind das Tempo der Entwicklung und die Breite der unter KI subsummierten Themen einfach zu groß“, meint Schmitz resignierend.
„Ich glaube schon, dass die KI selber keine Blackbox sein darf. Aber es gibt eben Bereiche, in denen der Nutzen erkannt wird, ohne die Komplexität durchdrungen zu haben – wie wenn wir ein Auto fahren“, sagt dazu Peter Frerichs, Bereichsleiter Inventory and Supply Chain bei Inform. Das IT-Beratungsunternehmen hat die Software für Reyher zur Verfügung gestellt und die technische Implementierung begleitet.
Dass ein Unternehmen auf KI setzt und gleichzeitig zugibt, die Materie nicht vollends zu erfassen, ist nicht ungewöhnlich. Zum einen zeigt eine kürzlich veröffentlichte Studie mit 123 Umfrageteilnehmern aus der Logistik durch Inform selbst, dass lediglich zwölf Prozent der Betriebe meinen, sich halbwegs mit KI auszukennen – während 26 Prozent aber bereits auf die künstliche Intelligenz in ihren Logistikprozessen setzen. Man setzt also ein, was man eigentlich nicht begreift.
Zum anderen erklärt Frerichs diesen auf den ersten Blick widersprüchlichen Umstand so: Der Begriff ist ein großer Aufmerksamkeitspunkt, aber viele wissen nicht, was die KI überhaupt macht. Die Menschen müssen erst ihre Einsatzfelder erkennen.“ Hier seien durchaus auch die Medien in der Lage, einen Teil der nötigen Aufklärungsarbeit zu übernehmen. „Es gibt viele Publikationen zu KI in der Presse. Doch die Medien könnten noch mehr Erklärungsarbeit leisten.“
Schließlich ist KI ein sehr breiter Begriff und ihren Nutzen für das eigene Unternehmen, für spezifische Prozesse zu erkennen, das ist derzeit noch die Herausforderung. Der Wille zum Verständnis scheint aber da zu sein, wie eine Vielzahl an Seminaren und Kongressen zu den möglichen Einsatzbereichen von KI zeigt. „Und die Suche ist tatsächlich ganz konkret. Die Leute wollen wissen, was können wir mit KI machen und konkret weiterbringen“, so Frerichs. „Sie wollen wissen, auf welche Frage KI denn die Antwort ist. Die Menschen müssen erst die Einsatzfelder erkennen.“
75 Prozent der Befragten geben an, nicht zu wissen, wie sie die künstliche Hilfe in ihren Betrieb integrieren sollen, obwohl sie andererseits die Wichtigkeit bereits anerkennen. Viele von ihnen sind sich wahrscheinlich unsicher, was der Einsatzbereich sein könnte.
Die Einsatzmöglichkeiten sind tatsächlich mannigfaltig. Ein Beispiel: Will ein Betrieb seinen Transport optimieren, ist es von hoher Bedeutung, über die Verspätungslage Bescheid zu wissen. Staus oder Engpässe treten häufig in Kombination mit anderen Ereignissen, wie etwa einer bestimmten Schlechtwetterlage, auf – hier kann KI eine typische Rolle spielen und unter Berücksichtigung mehrerer Faktoren die Wahrscheinlichkeit einer Verspätung voraussagen. „Das ist direkter Nutzen, nach dem man auch handeln kann“, erklärt Frerichs. Er sieht im noch herrschenden Aufklärungsbedarf aber auch eine schöne Herausforderung und wohl auch Erlösquelle für IT-Berater wie Inform. Arbeit gibt es hier genug – drei Viertel der befragten Logistikbetriebe wünschen sich mehr Unterstützung bei der Implementierung von KI.
Lesen Sie weiter auf Seite 2: Wo bei der Implementierung für Reyher die größten Herausforderungen lagen und wie wichtig die Kosten sind!
Die holte sich auch Reyher, als das Management fand, dass der Zeitpunkt gekommen wäre, auf KI nicht mehr verzichten zu wollen. Während die technische Implementierung problemlos lief, gestaltete sich das Change-Management in der täglichen Arbeit schon etwas anspruchsvoller. Bereut wird die Entscheidung dennoch nicht – denn im C-Teile-Geschäft, in dem sich das Unternehmen bewegt, benötigt man für den größtmöglichen Erfolg auch den effizientesten Umgang mit einer großen Menge an Informationen und Daten. „Zielorientiert ist das nur möglich, wenn konsequent auf Management by Exception gesetzt wird, um wichtige Informationen für den einzelnen Mitarbeiter in der Materiaplanung zu filtern und bereitzustellen“, erklärt Marco Schmitz den Einsatzbereich der KI bei Reyher. Den Mitarbeitern wird bei dieser Führungstechnik also bis auf Ausnahmefälle die Entscheidungskraft selbst überlassen – nun war es bei den großen Volumina dem einzelnen Einkäufer aber einfach nicht mehr möglich, sich jeden Artikel einzeln anzusehen. Als Spätzünder in der Implementierung von KI sieht sich das Unternehmen nicht. Allerdings: „Wer sich bisher noch nicht mit dem Thema auseinandergesetzt hat, ist sicher spät dran und wird in Zukunft Nachteile haben“, glaubt Schmitz. „Natürlich kann keine KI das zugrundeliegende Geschäftsmodell ersetzen. Wer ein hervorragendes Geschäftsmodell hat, kann vielleicht auch ohne KI-Nutzung erfolgreich sein. Die Frage ist nur, wie lange sich das Geschäftsmodell alleine trägt und nicht von Wettbewerbern kopiert werden kann.
Die Kostenfrage war bei Reyher nicht die große Hürde – sobald die Kosten-Nutzen-Rechnung vorlag, waren alle möglichen Bedenken in die Richtung „schnell überwunden“, sagt Schmitz. So sieht das Frerichs mit Blick auf die meisten Unternehmen, die – Zeit ist‘s – KI erwägen: „Es gibt keine klaren Investitionsbeispiele, die extrem hohe Investitionen darstellen. Geld ist nicht das große Thema, die Kosten immer die zweitrangige Diskussion – zuerst kommt der Nutzen.“
Folgen Sie der Autorin und dispo für die aktuellsten News und mehr!