Handel : Wie sich der stationäre Handel gegen den E-Commerce stemmt
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Kassen gibt es in diesem Laden keine. Der Kunde geht hinein, holt sich, was er braucht, und geht mit seinem Einkauf ungehindert bei der Tür wieder hinaus. Was nach einem geldlosen Utopia klingt, ist in der amerikanischen Amazon-Go-Filiale in Seattle bereits Realität. Wer die entsprechende App heruntergeladen hat und sich am Eingang registriert, kann dort tatsächlich einkaufen, ohne am Ausgang des Shops die Kreditkarte oder gar Bargeld zücken zu müssen.
Möglich macht das ein regelrechtes logistisches Wunderwerk: Unzählige Sensoren registrieren, wenn ein Produkt aus einem Regal entnommen wird, und ordnen es per RFID-Transponder einem konkreten Kunden zu. Verlässt der Kunde samt dem Produkt den Laden, merken die Sensoren das ebenfalls. In der Folge wird das Amazon-Konto des Käufers mit dem entsprechenden Betrag belastet. Einen Kassenschalter braucht es bei diesem Geschäftsmodell nicht.
Seit etwas mehr als einem Monat ist der Amazon-Go-Laden in der 7th Avenue in Seattle offiziell für Kunden geöffnet. Und auch wenn der Betrieb Amazon derzeit noch teurer kommt als das in einem vergleichbaren Geschäft mit konventionellem Check-out der Fall wäre, hält das Unternehmen an seiner Strategie, den stationären Handel neu zu definieren, unbeirrt fest. Noch heuer sollen sechs weitere Amazon-Go-Shops eröffnet werden. In Zukunft, so hört man, will Amazon die um 13,7 Milliarden Dollar erworbene Bio-Lebensmarktkette Whole Foods zur Gänze auf kassenlosen Verkauf umstellen.
Neue Aufgabe für die Logistik: Das Einkaufserlebnis
Die meisten Fachleute teilen die Begeisterung: „Mit Amazon Go geht Amazon im Prinzip den richtigen Weg. Bezahlen soll möglichst effizient und sicher passieren und kein Vorgang sein, der das Einkaufserlebnis unterbricht“, sagt Andreas Auinger. Auinger sollte es wissen. Der Logistik-Forscher koordiniert das europaweite Forschungsprojekt PERFORM, das die Potenziale des stationären Handels in Zeiten von Webshop, Digitalisierung und E-Commerce untersucht. Dass der Fokus dabei unter anderem in den Bereichen Technologie und Logistik liegt, ist kein Zufall. Denn noch sind die im stationären Handel beherrschenden Logistik-Konzepte sehr stark vom Denken alter Schule geprägt: Produkt von A nach B bringen. Fertig.
Heute, sagt Auingers Kollege Franz Staberhofer, Professor an der FH Oberösterreich und Obmann des Vereins Netzwerk Logistik, besteht eine der Aufgaben, die Supply-Chain-Manager erfüllen müssen, aber darin, Einkaufsumgebungen optimal zu gestalten: „Wir brauchen auch in der Logistik ein Vorwärtsdenken. Der Supply-Chain-Manager von heute designt Marktplätze. Wenn Logistik ihren eigenen Anspruch ernst nimmt, Kundenwünsche zu einem optimalen Preis zu erfüllen, dann muss sie sich verstärkt auch um das Einkaufserlebnis kümmern.“
Das Einkaufserlebnis, die Consumer Experience – das ist das Schlüsselwort in der Diskussion um das Überleben von stationären Verkaufsmodellen. Um diese Experience dem Kunden bieten zu können, muss der stationäre Handel es allerdings auch schaffen, bei der Vielfalt des Angebots einigermaßen mit dem E-Commerce-Universum mitzuhalten. Was letztlich bedeutet: Ohne Multichannel, ohne eine Verbindung von Online und Offline wird es eng. „Als rein stationäre Anbieter werden auf Dauer höchstens absolute Spezialisten überleben“, ist zum Beispiel Andreas Auinger überzeugt.
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Multichannel-Angebote als Chance
Noch sind die Angebote, die aus der Mutichannel-Welt kommen, allerdings in ihrer Mehrheit nicht gerade prickelnd: Online bestellen, im Shop abholen. Warenverfügbarkeit prüfen, allenfalls Infos per Internet anbieten und Online als digitales Schaufenster für Offline nutzen. Viel weiter reichen die meisten Versuche in Österreich noch nicht.
Vor allem aber: Sie definieren den Benefit von stationärem Handel primär dadurch, dass der Käufer die von ihm gewählte Ware sofort mit nach Hause nehmen kann. Unter diesen Vorzeichen mit dem schier endlosen Angebot von Amazon und Co. konkurrieren zu wollen, die ein X-faches an Lagerfläche zur Verfügung haben, ist allerdings von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
Spezialisten plädieren daher für einen anderen Zugang. „Vor allem bei teuren Konsumgütern will der Kunde vor dem Kauf das Look-and-Feel-Erlebnis haben, und das kann ihm der stationäre Handel noch immer besser bieten als das Internet“, sagt Efrem Lengauer vom Logistikum Steyr.
Warum also nicht auf ein Modell setzen, bei dem der stationäre Handel vor allem diese Stärke ausspielt? Dazu müsste er bloß Vorführstücke auf Lager haben, diese aber wirklich in jeder Ausführung bzw. jeder Größe. Entscheidet sich der Kunde für ein konkretes Modell, wird ihm die Ware nicht vor Ort ausgehändigt, sondern mit minimaler Verzögerung per Paketdienst nachhause geliefert.
Die eine oder andere psychologische Schranke müsste zuvor allerdings noch abgebaut werden: „Eine der Herausforderungen besteht darin, den Kunden daran zu gewöhnen, dass er in ein stationäres Geschäft geht und nicht unbedingt sofort mit Ware herausgeht, sondern sein Paket eben ein paar Stunden später zugestellt bekommt“, urteilt der Logistik-Forscher Auinger.
Online trifft Offline: Kooperation im Lager
Logistisch wäre ein solches System hingegen verhältnismäßig leicht bewältigbar. Denn die Lager rücken unter dem Same-Day-Delivery-Diktat ohnehin immer näher an den Kunden. Nichts scheint also logischer, als jene Lagerkapazitäten, die der Online-Handel derzeit sowieso massiv ausbaut, im Rahmen von Multi-Channel-Strategien und Kooperationen auch für den stationären Handel zu nutzen.
Umgekehrt könnte der stationäre Handel von der Online-Welt dazu verwendet werden, um dem Kunden ein unmittelbares, physisches Einkaufserlebnis zu ermöglichen, das selbst der beste und schönste Webshop der Welt nicht bieten kann.
Erste Versuche dazu gibt es bereits. Zalando bietet seinen Kunden in Bern die Möglichkeit an, online gekaufte Schuhe in einer der Filialen der Supermarktkette Migros anzuprobieren und sie bei Nicht-Gefallen auch gleich dort zu lassen. Das Ambiente, in dem probiert wird, ist bewusst auf den Erlebniswert ausgelegt: eine edel designte „Collect-Lounge“ mit geräumigen Umkleiden, Kaffehaustischchen und Computerterminals.
Als zusätzlichen Pluspunkt kann Zalando durch diese Kooperation auch ein überaus kostenintensives Problem der letzten Meile umgehen: die Tatsache, dass Berufstätige zu jenen Zeiten, zu denen der Paketzusteller kommt, oft außer Haus sind und ihr Paket daher gar nicht entgegennehmen können.
Weniger ist mehr: Radikale Konzepte für den Online-Handel
Die Idee vom stationären Handel als Erlebnis-Hotspot lässt sich aber noch weiter denken. Das zeigen Flagship-Stores von Top-Marken schon heute. Sie sind allerdings nicht unbedingt die großen Umsatzbringer, wie Rainer Will urteilt. „Im Grunde dienen Flagship-Stores häufig nicht primär dem Verkauf von Produkten, sondern der Stärkung von Image und Marke und damit der Kundenbindung“, sagt Will, der Mitglied im Direktorium von EMOTA European eCommerce and Omni-Channel Trade Association ist.
Radikalere Modelle könnten für ihre Anbieter allerdings auch von der Kostenseite spannend sein, etwa im Automotive-Bereich. Denn Autos online zu kaufen, dürfte sich auch in Zukunft kaum durchsetzen. Ein Auto will man Probe fahren. Gleichzeitig ist es für Autohändler aber ein immenses logistisches Problem, für ihre Kunden stets das richtige Modell zur Probefahrt bereitstellen zu können: mit exakt der gewünschten Motorisierung und Ausstattung.
Statt unzähliger Händler, die Autos hin und her verschieben, wäre es daher wohl sinnvoller, einige wenige Verkaufsstützpunkte zu etablieren, die dem Kunden bei der Probefahrt ein Gesamtpaket bieten: wirklich alle Modelle in jeder möglichen Ausstattung plus eine tolle Lage, ein entsprechendes Gastronomieangebot und eventuell auch noch Kinderbetreuung. Dafür wären die Kunden vermutlich bereit, auch eine längere Anreise in Kauf zu nehmen.
„Ich habe vor einigen Jahren ein Konzept erstellt, das den OEM erlaubt hätte, mit zwei, drei Stationen österreichweit den Verkauf zu bestreiten“, erzählt der Logistiker Franz Staberhofer. Das Interesse sei letztlich aber nicht sehr groß gewesen.
Ähnliche Erfahrungen mussten auch andere machen. Als nicht besonders wandlungswillig bezeichnen Beobachter den stationären Handel. Vielleicht, weil bei den einen Händlern das Gefühl Platz greift, gegen E-Commerce ohnehin nicht ankommen zu können, während sich andere in falscher Sicherheit wiegen. Die Zahlen sprechen ja in der Tat fürs Erste eine beruhigende Sprache: Fast 90 Prozent der Handelsumsätze in Österreich stammen aus dem stationären Handel. Der zweite Teil der Botschaft wird allerdings offenbar überhört: Rund zwei Drittel der Käufe sind heute digital beeinflusst. Sprich: Der Anstoß zum Kauf kommt aus dem Internet.
Auch der stationäre Handel muss digital werden
Stationärer Handel, der die Möglichkeit des Digitalen als Kaufanreiz nicht nützt, verzichtet daher ohne Not auf jede Menge an Umsatz. Und er verzichtet auf noch etwas: die Möglichkeit, die eigene Point-of-Sale-Logistik zu verbessern. Denn während der Online-Händler aufgrund der Daten, die der Kunde hinterlässt, einen regelrechten Suchlebenslauf generieren kann, weiß der stationäre Händler oft kaum etwas darüber, was der Kunde in seinem Geschäft eigentlich tut. Kundenkarten und ähnliche Tools geben zwar einen Überblick über das Einkaufsverhalten, wofür sich der Kunde aber sonst interessiert hat, aus welchen Regalen er vielleicht Ware entnommen, dann aber wieder zurückgelegt hat, was er gesucht hat, aber nicht finden konnte – darüber weiß der stationäre Händler meist gar nichts.
Digitale Einkaufsassistenten, wie sie in Japan in Form von Robotern oder in den USA in Form von Tablets bereits Einzug in den stationären Handel gehalten haben, könnten hier Abhilfe schaffen. Denn sie würden nicht nur dem Kunden zu mehr Einkaufsfreude verhelfen, sondern sie könnten mit Hilfe der dabei gesammelten Daten auch so manche Frage über sein Shoppingverhalten beantworten.
Sie könnten aber auch weitere Marketingwege eröffnen, etwa indem sie die dazu verwendet werden, um einen Käufer, der sich vorher registriert hat, beim Betreten des Geschäfts zu erkennen, auf dem Smartphone persönlich zu begrüßen und ihn in der Folge seinen Kaufpräferenzen entsprechend durch die Verkaufsräume zu lotsen. Vor allem in großen, unübersichtlichen Geschäften wie Baumärkten eigentlich eine tolle Option. Allerdings, schränkt Logistikexperte Lengauer ein, sind solche Lösungen heute noch mit vielen Einschränkungen konfrontiert: sowohl psychologischer als auch rechtlicher Natur.
Die Zukunft: Welche Logistik braucht der Offline-Sektor?
Grundsätzlich negativ will Lengauer die Zukunft des stationären Handels aber dennoch nicht sehen. Und er argumentiert dabei nüchtern ökonomisch: Um rund 15 Prozent wächst der Online-Handel im B2C-Sektor derzeit pro Jahr. Geht es in diesem Tempo weiter, wird sich das heutige Online-Handelsvolumen in fünf Jahren verdoppelt haben. Es werden doppelt so viele Pakte ausgeliefert werden müssen und – Optimierung hin oder her – annähernd doppelt so viele Wege gefahren werden müssen.
Verbunden mit dem ruinösen Wettbewerb auf der letzten Meile, den sich die Händler heute im Kampf um die schnellste Zustellung liefern, werde das unweigerlich zu einer Trendwende führen. Denn auf Dauer sind die derzeit sehr niedrigen Zustellpreise, die diesen Wettbewerb überhaupt erst möglich machen, nicht haltbar, ist Lengauer überzeugt. Der stationäre Handel könne davon nur profitieren. Weil dann der Preisvorteil der Online-Welt endgültig schmelzen würde.
Die Schwäche des stationären Handels scheint aber ohnehin nicht primär der Online-Konkurrenz geschuldet zu sein, sondern vielmehr der schlechten Positionierung des eigenen Bereichs. Davon ist jedenfalls Franz Staberhofer überzeugt: „Wenn der stationäre Handel es schafft, die Customer Journey gut zu gestalten, dann hat er allemal fantastische Chancen. Dafür muss er aber auch kompetente Menschen als Verkäufer in die Geschäfte stellen.“ Denn das umfangreichste Angebot nützt nichts, solange der Vor-Ort-Händler seinen größten Vorteil nicht ausspielt: die Beratungskompetenz.
Die muss heute freilich auch anders definiert werden, als das noch vor zehn oder gar zwanzig Jahren der Fall war. Denn ging der Kunde früher ins Geschäft, um sich dort ein Produkt empfehlen zu lassen, so kommt er heute, zumindest bei größeren Anschaffungen, oft mit sehr klaren Vorstellungen und immensem Vorwissen. Ohne eine Logistik, die darauf reagiert, indem sie den Verkäufer in Echtzeit per Smartphone oder Tablet mit allen für das Verkaufsgespräch nötigen Fakten unterstützt, wird ernsthafter stationärer Handel in Zukunft daher kaum stattfinden können.
Diese Story finden Sie auch in dispo Ausgabe 3/2018.