Assistenzsysteme : Digitaler Arbeitsplatz: Null Fehler statt Bevormundung
Das System ist so simpel zu bedienen, dass man die Komplexität der Technologie fast vergisst. Am Arbeitsplatz, an dem die Getriebe assembliert werden, überwacht ein Bilderkennungs- und Bildverarbeitungssystem jede einzelne der verwendeten Komponenten und jeden Arbeitsschritt in Echtzeit. Der Bildschirm über dem Arbeitsplatz zeigt zwei – hoffentlich – idente Bilder: rechts die Explosionszeichnung des Getriebes, wie es nach jedem Arbeitsschritt aussehen soll. Links das aktuelle Kamerabild des jeweils erfolgten Montage-Schritts.
Sobald ein Mitarbeiter einen Getriebeteil einsetzt, werden die Bilder automatisch verglichen und erfolgt ein augenblickliches Feedback in Form roter oder grüner Farbe. Fehler können somit sofort korrigiert werden, ehe nachfolgende Schritte rückgängig gemacht werden müssen. Ist das Getriebe fertiggestellt, löst der Mitarbeiter per Knopfdruck eine finale Überprüfung des Ergebnisses aus.
Alleine die Taktzeit macht klar, dass ein hoher Automatisierungsgrad nötig war: Alle drei Minuten wird im Kapfenberger Werk der Pankl High Performance Systems ein Motorrad-Getriebe fertiggestellt. Und diese rund 160.000 Getriebe pro Jahr sind nur eine der Vorgaben. Die Montage muss flexibel genug sein, um die Fertigung von neun verschiedenen Getriebetypen zu ermöglichen. Sie muss maximal erweiterbar und adaptierbar sein. Hinzu kommen lückenlose Rückverfolgbarkeit und eine minimale Fehlerquote. Pankl High Performance Systems ist die auf Hochleistungsgetriebe spezialisierte Sparte der Pankl Racing AG, und am Standort Kapfenberg geschieht die komplette Wertschöpfung. Als die Produktionsstätte 2016 errichtet wurde, erhielt die Knapp-Gruppe den Auftrag für die Automatisierung des neuen Standortes.
Holokratie sorgt für Agilität
Die vier Montagearbeitsplätze nennen sich „ivii.smartdesks“, und sie sind das Werk der ivii GmbH. Die Firma – das Kürzel steht für „intelligent visual image identification“ – wurde im April 2016 als Spin-off der Knapp AG gegründet. Hier hat der Konzern sein Know-how in der intelligenten Bildverarbeitung gebündelt, und hier wird es permanent weiterentwickelt. Die Ausgliederung in ein Tochterunternehmen hat laut Geschäftsführer Peter Stelzer nicht nur damit zu tun, dass man sich von der übermächtigen Brand absetzen wollte, die in den Köpfen der Kunden fest mit Logistik assoziiert ist. Entscheidend sei auch gewesen, dass der Geschäftsbereich grundsätzlich anderer Prozesse und auch Freiheitsgrade bedürfe.
Der Versuch, im neuen Unternehmen „Holokratie“ als Prozess der integrativen Entscheidungsfindung zu etablieren, sei zu Beginn „sehr spannend“ gewesen, erzählt Stelzer. „Heute bin ich sehr froh darüber. Ich treffe heute tatsächlich keine Entscheidungen mehr, ich begleite sie nur. Das bringt uns die notwendige Agilität nicht nur in der Software-Entwicklung, sondern auch in der Organisation.“ Und möglicherweise sensibilisiert es auch für die Arbeit in einem Umfeld, das reich ist an Minen: der Digitalisierung der Arbeitswelt.
Effizienz dank Fehlervermeidung
Den grundlegenden Vorwurf, Digitalisierung vernichte Arbeitsplätze, hört Peter Stelzer wohl oft. Und das Gegenargument, dass Industrieunternehmen händeringend nach Mitarbeitern suchen und daher um das Thema kaum herumkommen, entschärft ihn nicht immer. „Natürlich steht letztlich jede Technologie im direkten Wettbewerb zum Menschen“, sagt der ivii-Chef. Einmal entwickelte Technologie nicht anzuwenden, sei aber noch nie eine realistische Option gewesen. Gesellschaftliche Veränderungen zu bewältigen – das könne nur die Gesellschaft selbst, sprich: die Politik.
Besonders heikel wird das Thema, wenn es um die Digitalisierung des Arbeitsplatzes geht. Wohl auch, weil hier schon einige Sackgassen beschritten wurden. Die Vorstellung etwa, flächendeckend und permanent Wearables einzusetzen, wich bald der Erkenntnis, dass ein Zuviel an Unterstützung als enorme Belastung empfunden wird.
„Unsere Philosophie lautet hier: nur so viel Technologie am Menschen selbst wie unbedingt notwendig“, sagt Peter Stelzer. Im Falle der Pankl High Performance Systems tragen die Mitarbeiter überhaupt keine Technologie am Körper. Das System steigert die Effizienz quasi über die Hintertüre: Anstatt höhere Leistung in weniger Zeit aus den Mitarbeitern herauszuholen, geschieht Effizienzsteigerung ausschließlich über Fehlervermeidung.
„Wenn Technologie dabei hilft, keine Fehler zu machen, dann ist das für die Mitarbeiter ein beruhigender Faktor“, meint Stelzer und weist auf einen weiteren arbeitspsychologischen Aspekt hin: „Das Feedback hilft den Menschen auch dabei, ihrer aktuellen Stimmung entsprechend zu arbeiten.“ Immer eine konstante Leistung zu bringen, sei bekanntlich unmöglich. Körperliche oder psychische Befindlichkeiten triggern die Leistung massiv. Mit Hilfe dieser Technologie könne man sich aber an das aktuelle eigene Optimum herantasten, „man sieht, wie schnell man sein darf“.
Die Grenzen ausloten
Die Ivii-Technologie ist in unterschiedlichen Anwendungen im Einsatz. Bei einem Hamburger Medizintechnik-Unternehmen unterstützt ein Beamer den Kommissionierprozess: Er beleuchtet nacheinander die einzelnen Medikamentenpackungen, die als nächste kommissioniert werden sollen. Im Falle einer US-Apothekenkette geht es sogar um das Erkennen einzelner Tabletten. Das Bilderkennungssystem identifiziert feinste Unterschiede in Form und Farbe der Tabletten, um eine fehlerfreie Zuteilung zu Patienten zu ermöglichen. Das System identifiziert die Tabletten, überprüft ihre Anzahl und liest und interpretiert die Labels, die dem jeweiligen Patienten zugeordnet sind.
Noch, sagt Peter Stelzer, sind derartigen Systemen recht enge Grenzen gesetzt – was vor allem mit der Geschwindigkeit zu tun hat, mit der die KI geschult werden kann. „Die Anwendung bei Pankl war eine Meisterleistung unseres Teams, aber natürlich ist es eine Nische mit vergleichsweise überschaubaren Varianten.“
Ähnliches etwa in einem Lager für den Lebensmittelhandel umzusetzen, liegt noch in weiter Ferne. Die KI mit einer nicht-stationären Kamera und entsprechend wechselnden Lichtverhältnissen zu schulen, ist ebenso noch kaum bewältigbar wie die schiere Menge an häufig wechselnden Artikeln. „In solche Dimensionen vorzudringen, wird noch Jahre dauern“, glaubt Stelzer, „aber natürlich verschieben wir die Grenzen permanent.“
Keine Überwachung
Was man mittels Digitalisierung auch im Lebensmittelhandel bewegen kann, beweist unterdessen ein System der ivii-Mutter Knapp, das bereits bei mehreren Kunden im Einsatz ist. KiSoft Pack Master ist ein „Packbildassistent“, der Picker dabei unterstützt, Waren auf Rollbehältern für die Belieferung von Filialen optimal zusammenzustellen.
Dabei werden die Waren dem Mitarbeiter im Ware-zu-Person-Prinzip in ergonomischer Höhe am Pick-it-Easy-Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt. Die Berechnung der optimalen Position von Einzelstücken oder Verpackungseinheiten im Behälter übernimmt die Software. In den Algorithmus fließen nicht nur die optimale Ausnutzung des Volumens, sondern auch die maximale Stabilität oder die filialgerechte Beladung ein.
Die Befürchtung, derartige Assistenzsysteme würden von den Mitarbeitern als Überwachung oder Bevormundung empfunden, hat sich unterdessen bei Pankl High Performance Systems nicht erfüllt. Nach rund zweijährigem Einsatz berichtet COO Christoph Prattes, die Mitarbeiter wüssten genau, wie das System funktioniert, „und sie sehen es nicht als Überwachung, sondern als willkommene Unterstützung, um ihre Arbeit in bester Qualität und schnellster Zeit umzusetzen – und so unsere Ziele zu erfüllen.“
Diese Story finden Sie auch in dispo Ausgabe 9/2018.