Corona-Krise : „Just-in-time ersetzt heute planerischen Zufall“

Franz Staberhofer
© Lux und Lumen

Herr Professor Staberhofer, die Frage nach der Chance in der Krise schrammt an der Platitude – dennoch: Sehen Sie die Chance, dass Logistik und Wirtschaft „danach“ andere sein könnten?

Franz Staberhofer: Wenn man aus der Vergangenheit lernen will, sieht man sich an, wie es nach der Krise von 2008 weitergegangen ist. Die Lehre daraus war ja offensichtlich fast Null. Die OEM behandeln ihre Lieferanten unverändert nicht als Partner und immer noch gleich schlecht. Wir bauen immer noch die gleichen Autos wie vor zehn Jahren. Wir haben in fast keinem Bereich hinzugelernt. Da ich aber zum Optimismus neige, glaube ich, dass sich diesmal tatsächlich etwas verändern könnte.

Warum sollte das so sein?

Staberhofer: Weil die aktuelle Krise im Unterschied zu 2008 wirklich alle betrifft. Alle Menschen, alle Länder und alle Branchen. Und weil sie uns wohl noch eine ganze Weile begleiten und prägen wird. Da muss sich einfach etwas verändern.

Beschleunigt die Krise möglicherweise auch Entwicklungen, die ohnehin überfällig waren?

Staberhofer: In manchen Bereichen ist das wohl so. Inoffiziell hat man doch schon länger gehört, dass die Produktion auf über dem Limit so nicht weitergehen kann. Der Produktionsrückgang wurde also nicht ausschließlich negativ gesehen. Sollte das System demnächst wieder voll anlaufen, besteht tatsächlich die Hoffnung, dass es ein anderes sein wird. Es muss in vielen Bereichen einen Musterwechsel geben. Aber eben mutig, realistisch, mit wirklich konkreten nachhaltigen Zielen. Das muss die oft nicht fertig gedachte Ankündigungen ersetzen.

Haben Sie Beispiele für Musterwechsel?

Staberhofer: Dafür gibt es viele. Etwa, das Thema CO2-Reduktionen ernsthaft und realistisch zu bearbeiten. Das ersetzt den bisherigen marketingorientierten Zugang mit einem oberflächlichen Klimaprogramm ohne echte Inhalte, kombiniert mit dem Propagieren von Strom als Alleslöser, der offensichtlich wundersam entsteht und verteilt wird.

Transportpreise müssen deutlich höher werden, und das Verhältnis zwischen Logistiker und Verlader muss dabei auf eine gemeinsame Lösungsbasis gebracht werden. Nehmen Sie etwa auch das Thema Ganzzüge: Dafür fehlt derzeit vielerorts Substrat, damit steigen die Kosten, aber die Preise sind ja längst ausgemacht – genau jetzt müsste die Logistik darauf pochen, dass Leistung auch etwas kostet, und die Situation muss gemeinsam gelöst werden.

Wie könnte die Corona-Krise die Lieferketten verändern? Just-in-time zum Beispiel erweist sich ja als wenig Krisen-geeignet.

Staberhofer: Just-in-time war zu Beginn vielleicht eine geniale Idee in der Produktionslogistik, doch heute wäre der korrekte Begriff Zwangsliefer-Methode der OEM. JIT ersetzt heute planerischen Zufall! Teilweise externe Qualitäts-Kontrolleure werden nach den gefundenen Fehlern bezahlt, und wenn nur 98 von 100 fehlerfrei sind, wird der Lieferant eben nicht bezahlt. Natürlich trauen sich die Lieferanten nicht, diese Erpressung anzuprangern, denn wenn sie sich aufregen, werden sie ausgelistet.

Wenn wir also über die Chancen sprechen, die in dieser Krise liegen, dann sehe ich durchaus Möglichkeiten. Etwa den Aufruf, sinnvoll geschlossene regionale Kreisläufe zu etablieren. Ich bin wirklich kein Freund des Merkantilismus – dass im Mittelalter jeder sein Brot selbst gebacken hat, mag romantisch erscheinen, aber das kann nicht unser Vorbild sein. Es reicht, wenn wir das Sinnlose, die Verschwendung abstellen. Und hier sind vor allem die Supply-Chain-Manager in den Unternehmen gefragt als Sparringpartner der Firmenlenker.

Außerdem sehe ich die Notwendigkeit, jetzt saubere Geschäftsbeziehungen auf Augenhöhe zu etablieren. Das ist vor allem ein Aufruf an die OEM und an den Handel. Auch die Spediteure müssen jetzt ihren teilweise selbstauferlegten Gehorsam ablegen und auf die Tatsache bestehen, dass ihre Leistung und Logistik viel wert ist.

Hat das auch mit dem Image der Branche zu tun?

Staberhofer: Ja, und mit der Wertschätzung, die den Mitarbeitern entgegengebracht wird. Medizinisches Personal oder die berühmte Supermarktkassiererin werden derzeit völlig zurecht für ihre Leistungen anerkannt. Lkw-Fahrer und Zusteller bleiben – wie etwa auch die Menschen im Sozialbereich – eher unsichtbar. Sie werden nicht als Helden erkannt. Es ist an der Zeit, dass die am wenigsten ‚Wertvollen‘ endlich sichtbar werden. Es geht hier nicht um Klassenkampf, es geht um eine faire Ordnung im System. Höhere Gehälter für die Lkw-Fahrer – um nur ein Beispiel zu nennen – würden die Bilanzen der Auftraggeber marginal ändern. Nicht in der Krise des Mangels ist zu reagieren, sondern jetzt – aber all das muss auch aus der Branche selbst kommen, mutig von innen.

Wird das geschehen?

Staberhofer: In der letzten Zeit hört man immer wieder den Satz ‚Wir müssen in anderen Lösungen denken.‘ Nach 2008 hat man diesen Satz fast nie gehört. Wir dürfen jetzt nur keine Angst vor der eigenen Courage haben. Die Selbstdegeneration, die Befangenheit in sich selbst sind derzeit die größte Gefahr. Jetzt ist wirklich der Moment – und dieser Moment dauert mindestens noch ein Jahr –, selbstbewusst neue Wege zu gehen. Dann gibt es eine Chance auf Änderung.

* Franz Staberhofer ist Professor an der FH Oberösterreich, Campus Steyr, Leiter des Logistikum Steyr und Obmann des Vereins Netzwerk Logistik (VNL).