Digitalisierung : Wie geht es Logistik-Startups in Europa, Herr Günes?
dispo: Herr Günes, die Intralogistik sieht sich gerne als Innovations-Vorreiter in der Industrie. Teilen Sie diese Selbsteinschätzung?
Ersan Günes: Die Branche stellt sich in meinen Augen etwas innovativer dar, als sie tatsächlich ist. Im Logistik-Umfeld bedeutet „Innovation“ bisweilen schon, auf das neue SAP-Release umzustellen. Oder mal eine Datenbrille ins Spiel zu bringen, die dann doch ungenutzt in der Ecke landet. Ich erlebe durchaus, dass Fragen nach den Prozessen oder nach IoT eher abgetan werden. Häufig liegt das an einer unbegründeten Scheu, dass die Lösung zu tief integriert werden muss, um überhaupt konkreten Nutzen zu bringen. Da helfen dann Referenzen – nach dem Motto: „Na, wenn er das bei Daimler und bei Volkswagen macht, und die haben ihn nicht rausgeschmissen, dann wird vielleicht doch etwas dran sein.“
Aber woran liegt das? An der Angst, sich zu sehr aus der Deckung zu wagen?
Günes: Ich denke, manchmal liegt es wirklich an den Strukturen. Ein Logistikleiter, der erlebt, dass die IT schon Stress macht, weil er einen neuen Netzwerkanschluss benötigt, wird vielleicht übervorsichtig. Logistik-Innovation kann ja nicht in der Logistikabteilung alleine entstehen, sie benötigt intensive Kommunikation mit vielen Unternehmensbereichen. Das Gespräch führt in der Praxis am ehesten über den CFO zum Erfolg. Wenn der mal grünes Licht gibt, wird vieles einfacher.
Ihre Argumentation bei Kunden funktioniert besser über die Bestätigung des ökonomischen Benefits als über die logistische Funktion selbst?
Günes: Genau. Das ist übrigens das Problem aller Logistik-Startups. Sie denken immer: Die Logistiker werden es lieben! Aber man muss zunächst das Controlling überzeugen. Die großen Unternehmen, mit denen wir bereits arbeiten, wollten zuallererst den ROI wissen. Der darf meist nicht über zwei Jahren liegen.
Sie kooperieren mit Unternehmen wie Porsche, Daimler, Nokia, Airbus oder auch Wacker-Neuson in Österreich. Sprechen Sie auch kleinere an?
Günes: Ganz ehrlich: Wir betreiben keine große Kaltaquise. Wir bekommen Anfragen über die Website oder Weiterempfehlungen, und dann geht’s los. Tatsächlich bemerken wir, dass sich vor allem Unternehmen ab 200 bis 300 Millionen Euro Umsatz bei uns melden. Das IntraNav-System ist allerdings ab einem Lager von vier bis fünf Staplern oder 100 Transportbehältern bereits mit erkennbarem Mehrwert einsetzbar. Im Grunde müsste das jeden Logistiker und Produktionsleiter interessieren, der ein Warehouse oder eine kleine Fertigung hat – oder auch zehn Fahrzeuge für die Auslieferung, von denen er wissen will, wo sie sich gerade befinden und ob und wie sie vielleicht besser eingesetzt werden könnten. Deshalb haben wir auch ein Kit für kleinere Unternehmen entwickelt, das sowohl über die Cloud als auch lokal installiert funktioniert und daher sehr kostengünstig ist. Von hier aus können kleine Unternehmen bei Gefallen nach oben skalieren.
Warum assoziiert man Start-ups eigentlich sofort mit den USA oder Israel? Haben es Gründer in Europa denn so schwer?
Günes: Die Bereitschaft, Fehler zu riskieren, ist vor allem in den USA deutlich größer als in Europa. Und ein Start-up, das in Deutschland oder Österreich eine Million Euro bekommt, bekäme in den USA wahrscheinlich ein Vielfaches, sofern die Idee Substanz hat und ein erkennbarer Product-Market-Fit besteht. Qualitativ sind wir allerdings ganz vorne. Denn da wir die Kunden direkt vor der Türe haben, sehen wir sofort, ob etwas funktioniert oder nicht. Für US-Startups ist das oft ein Problem, viele haben es schwer, in Europa Fuß zu fassen. Sie sind nicht gewöhnt, dass von ihnen so schnell ein Leistungsnachweis verlangt wird. Hinzu kommt allerdings, dass europäische Unternehmen oftmals noch sehr scheu gegenüber Cloud-Lösungen sind. In den USA ist das bereits üblich.
Menschen wie Sie erzeugen auch Ängste. Systeme wie IntraNav kosten Staplerfahrer den Job. Wie gehen Sie damit um?
Günes: Knöpfe, die gedrückt werden können, werden auch irgendwann gedrückt. Immer. Das ist eine Grundkonstante, die sich in der Vergangenheit immer wieder gezeigt hat. Die Frage ist: Wie hoch ist der Preis, wenn man den Knopf erst als zweiter drückt? Natürlich beruht unsere Argumentation gegenüber Kunden auf Effizienzsteigerung und Reduktion manueller Prozesse. Damit erfreut man den Head of Finance – aber bei den operativen Leitern, die ja mit den Mitarbeitern oft auch befreundet sind, treffen wir klarerweise auch manchmal auf Bedenken. Ich habe sogar schon erlebt, dass unsere Gerätschaften von den Staplern abgerissen wurden, um das Projekt scheitern zu lassen.
Meine Antwort darauf werden Sie schon von anderen gehört haben: Wir kreieren neue Jobs. In der Systempflege, in der Bedienung, in Maintenance und Support. Wir erleben gerade einen starken Fachkräftemangel und kommen nicht um eine Automatisierung herum. Gerade in der heutigen Zeit fangen die großen Konzerne in der Automobilbranche mit den Sparrunden an. Interessant ist, dass die Digitalisierung und Automatisierung davon nicht betroffen sind. Älteres Personal, das nun bald in Rente geht, kann durch die Automatisierung abgefedert werden.
Es bieten sich neue Chancen und Möglichkeiten: Für jeden Stapler, den wir ersetzen, schaffen wir im Schnitt zwei neue Jobs. Maschinen und Anlagen müssen gewartet werden. Man braucht mehr Maintenance-Mitarbeiter und Operators. Auch, um die Maschine für neue Gegebenheiten umzuprogrammieren oder zu erweitern.
Ich will diese Situation der Transformation wirklich nicht kleinreden, aber Innovation einfach nicht stattfinden zu lassen, wird nicht die Lösung sein. Es ist ein Thema, dem sich die ganze Gesellschaft stellen muss. Wirtschaft und Politik liefern hier leider ziemlich wenig.
Am ehesten sind es die KMU, die Eigentümer, die noch eine persönliche Beziehung zu ihren Mitarbeitern haben, die entsprechende Qualifizierungs- und Weiterbildungsprogramme aufsetzen und auch erfolgreich durchführen.
Zentimetergenau
IntraNav ortet, wo GPS nichts mehr sieht.
IntraNav ist ein zentimetergenaues End-to-End-Ortungssystem in 2D oder 3D für innerbetriebliche Transportmittel und Güter im Produktionsprozess – also für Bereiche, die mit GPS auf Grund von Ungenauigkeit, Energieverbrauch und Abschattung nicht abgedeckt werden. IntraNav (Eschborn, Frankfurt a. M., D) setzt selbst entwickelte Sensorsysteme ein, deren Daten gemeinsam mit Daten aus universellen Quellen sowie der Industrial-IoT-Plattform IntraNav ein ganzheitliches Echtzeit-Lokalisations-System ergeben.
Das System findet in der Intralogistik ebenso Anwendung wie im Tracking & Tracing in der Produktion, in der Steuerung von Robotik oder FTS. Auch Mischflotten aus FTS und klassischen Gabelstaplern können damit dynamisierte Ziele ansteuern und automatisch auf Personen in der Umgebung reagieren.
IntraNav kann unter anderem bereits auf Einsätze bei Porsche, Daimler, Volkswagen, DB Schenker oder Airbus verweisen. Im Frühjahr 2019 holte sich IntraNav in einer von LEA Partners geführten Finanzierungsrunde 3,9 Millionen Euro an frischem Kapital. Angesichts der anstehenden weiteren Expansion sucht das Unternehmen bis Ende 2020 rund 30 Entwicklerinnen und Entwickler, die das Thema spannend finden.