Gastkommentar : Wie Händler ihren Longtail-Bestand in den Griff bekommen können
Einzelhändler verfügen typischerweise über ein Longtail-Sortiment. Es macht mehr als 95 Prozent aller Stock Keeping Units (SKU) und 79 Prozent des Umsatzes eines großen Internet-Händlers aus. Doch die diskontinuierliche Nachfrage nimmt auch in anderen Branchen zu. Bei einem unserer Kunden, einem Markenunternehmen aus dem Bereich FMCG, macht die diskontinuierliche Nachfrage 86 Prozent seiner SKUs und fast die Hälfte des Umsatzes aus.
Die folgenden drei Trends sind für das Wachstum des Longtails verantwortlich:
Produktproliferation: Immer mehr Produkte und Produktvarianten splitten die Nachfrage und führen zu einer höheren Variabilität auf SKU-Ebene.
Häufigerer Warennachschub: Schnellere Lieferungen und Reaktionen auf Bedarfsänderungen erfordern einen schnelleren Warennachschub. Dadurch ergeben sich sowohl Nullnachfrageperioden als auch Perioden mit kurzfristigen Nachfragespitzen.
Erweiterte Lieferketten: Eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Lieferanten, Distributoren und Einzelhändlern sorgt für eine bessere Sichtbarkeit der nachgelagerten Nachfrage beim Endkunden. Die Nachfrage wird in kleinere Ströme unterteilt, in denen diskontinuierliches Verhalten üblich ist.
Herkömmliche Supply-Chain-Lösungen wurden nicht für Nachfragen mit einem hohen Grad an Variabilität konzipiert. Der Bestandsmix und die Service-Levels geraten dadurch aus dem Gleichgewicht – und zwar über das gesamte Netzwerk hinweg. Disponenten versuchen das durch manuelles Hinzufügen von Beständen zu kompensieren, die sich allerdings im „Tail“ ansammeln und zu Fehlern im Bestandsmix führen. Einige Produkte sind überversorgt, wodurch wertvolles Betriebskapital gebunden wird, während andere unterversorgt sind und zu Margen- und Marktanteil-Verlusten führen.
Das manuelle Hinzufügen von Beständen kann auch einen sogenannten Peitschen- oder Bullwhip-Effekt auslösen. Die Planer konzentrieren sich auf den „Kopf“ und managen den „Tail“ als Ausnahme. Aufgrund der Schwierigkeit, solche Bestände zu planen, neigen Disponenten oft dazu, nur auf die Warennachschub-Aufträge zu reagieren. Das führt nicht selten zu einer Überreaktion, bei der sich im Laufe der Zeit Überbestände im Tail ansammeln und Obsoleszenzen entstehen.
Wenn die Prognosegenauigkeit allein nicht ausreicht
Die Schwierigkeit beim Umgang mit SKUs im „Tail“ liegt darin, dass es bei diskontinuierlicher Nachfrage eben auch viele Nullnachfrageperioden gibt, die Nachfragevariabilität sehr hoch ist und die Nachfragewahrscheinlichkeitsverteilungen stark verzerrt werden.
Diese „intrinsische Variabilität“, verursacht durch niedrige Bestellfrequenzen, hat wenig mit der Prognosegenauigkeit zu tun. Wird von einer SKU durchschnittlich nur alle zehn Tage eine Einheit abgesetzt und liegt die Tagesprognose dadurch bei 0,1 Einheiten, ist die Prognose insgesamt zwar recht genau, aber es ist schwierig vorherzusagen, wann die nächste Nachfrage eintritt und wie groß diese sein wird. Der Versuch, die Prognosegenauigkeit zu verbessern, ist daher bei Longtail-Artikeln ineffizient, da sie nicht zu einer relevanten Verringerung der wahrgenommenen Nachfrageschwankungen führt.
Ein besserer Ansatz: Modellierung der Wahrscheinlichkeitsverteilung
Ein weitaus effektiverer Ansatz ist in diesem Fall die Analyse der vollständigen Wahrscheinlichkeitsverteilung und die Erstellung einer zuverlässigen statistischen Beschreibung des Nachfrageverhaltens. Der Schlüssel zur Prognose des Longtail liegt also in der Modellierung der Wahrscheinlichkeiten der künftigen Nachfrage. Anstelle Vorhersagen zu einer einzelnen Bedarfszahl zu treffen, hilft die Anzeige von Nachfrageverhaltensweisen dabei, bessere Kompromisse und Entscheidungen zu treffen. Händler können sich auf die Eintrittswahrscheinlichkeit zukünftiger Ereignisse und die damit verbundenen Risiken für das Working Capital und die Service Level Performance konzentrieren.
Drei Maßnahmen zur Vorhersage der Longtail-Nachfrage
Die folgenden drei Maßnahmen helfen dabei, das Nachfrageverhalten und die Wahrscheinlichkeitsverteilung über eine Vielzahl von Nachfragemustern vorherzusagen:
Zuverlässige Nachfragemodellierung – arbeitet über eine breite Palette von SKU-Verhaltenstypen hinweg, um alle Elemente der Nachfrageunsicherheit und des Prognosefehlers zu verstehen, einschließlich der intrinsischen Nachfragevariabilität, die durch die Auftragszeilenhäufigkeit und die Auftragszeilengrößenverteilung verursacht wird.
Erweiterte Bestandsmodellierung – beschreibt das statistische Bestandsverhalten und eliminiert die groben Annäherungen der traditionellen Bestandsführungstheorie.
Bedarfssignalausbreitung – kombiniert Nachfrage- und Bestandsmodellierung, um die Auswirkungen von Warennachschubstrategien und Beschränkungen auf jeder Ebene der Lieferkette zu modellieren.
Diese drei Maßnahmen können zu deutlich unterschiedlichen Ergebnissen in der Supply-Chain-Planung führen. Ein Multichannel-Hersteller der Konsumgüterbranche konnte zum Beispiel herausfinden, dass zwei seiner SKUs im Durchschnitt weniger als ein Mal pro Tag verkauft wurden, sodass die traditionelle Prognose- und Lagerverwaltungssoftware des Herstellers für beide das gleiche Sicherheitsbestandsziel empfahl.
Bei einer der SKUs bestand die Nachfrage aus vielen kleinen Aufträgen, die relativ einfach mit einer kleinen Menge an Lagerbeständen abgewickelt werden konnten, bei der anderen jedoch aus mehreren großen Aufträgen, die viel mehr Lagerbestand für jede Bestellung erforderten. Als das Unternehmen eine Lösung implementierte, die dank der drei genannten Maßnahmen die Longtail-Nachfrage richtig interpretierte, ergab sich für die eine SKU ein Lagerbestandsziel von 28 Tagen, für die andere ein Ziel von 155 Tagen.
Mit diesen Daten war der Hersteller in der Lage, seinen Lagerbestand und die Service Levels zu optimieren. Mit dem effizienten Bestandsmix konnte der Hersteller so Service Levels von 99,6 Prozent erreichen.
Die Prognose des Longtail-Bedarfs ist nicht einfach, denn viele herkömmliche Ansätze und Tools greifen hier zu kurz. Mit den richtigen Werkzeugen, die über Funktionen zur zuverlässigen Nachfragemodellierung, erweiterten Bestandsmodellierung und Bedarfssignalausbreitung verfügen, ist sie aber durchaus erreichbar. Angesichts der steigenden diskontinuierlichen Nachfrage und immer mehr Longtail-Produkten sollten Händler überprüfen, ob sie die richtigen Tools nutzen, um den Longtail in den Griff zu bekommen.