Forschung : Wird die Bahn zum Rückgrat des Physical Internet?
Man stelle sich eine Transportwelt vor, in der die richtigen Verkehrsmittel zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort bereitstehen – noch ehe überhaupt ein Transportauftrag ergangen ist. Im Bereich der Straße wird bereits seit Jahren an der Umsetzung dieser Vision gearbeitet. Sollte das Forschungsprojekt „Backbone PI: Rail“ erfolgreich sein, wird proaktive Kapazitätsanpassung auch für die Schiene in die Nähe rücken.
Und das scheint immer dringender zu werden, steht die Schiene doch von zwei Seiten unter Druck. Einerseits verändert sich die Güterstruktur: Die klassischen Massengüter werden zwar weiterhin benötigt, verlieren aber anteilig gegen hoch entwickelte Konsumgüter, die noch dazu tendenziell immer rascher geliefert werden sollen. Was zu Cargo-Verlagerung von der Schiene auf die Straße beiträgt.
Pionierarbeit
Hinzu kommt der Einfluss des Physical Internet (PI), wie immer das im Einzelnen auch definiert wird. „In der PI-Forschung geht es um unterschiedlichste Aspekte wie etwa die Sharing Economy, Synchromodalität oder intelligente Behälter, die sich autonom bündeln und entbündeln und selbstständig ihren Weg von der Quelle zur Senke finden“, sagt Georg Brunnthaller von Fraunhofer Austria Research. Und auch hier gerät das System Bahn ins Hintertreffen. „Mir ist aus der Literatur eigentlich kein Forschungs-Konnex zwischen Bahn und Physical Internet bekannt.“
„Backbone PI: Rail“ wird also Pionierarbeit leisten. Gemeinsam mit dem Institut für Supply Chain Management der WU Wien, der Rail Cargo Group und dem vielfach ausgezeichneten jungen Wiener Unternehmen craftworks, das auf KI-Software spezialisiert ist, beginnt Fraunhofer Austria Research in diesen Wochen mit dem Forschungsprojekt, das die Güterbahn aus der doppelten Zwickmühle befreien soll. Und damit letztlich auch zur ökologisch bedeutsamen Fracht-Verlagerung auf die Schiene führen soll.
Konkret wird Fraunhofer Austria im Projekt folgende Aufgaben übernehmen:
- die Analyse von Anforderungen an das Verkehrssystem Schiene im zunehmend dynamischen Marktumfeld des Physical Internet;
- die Entwicklung eines antizipativen Planungsansatzes zur vorausschauenden Wagenplanung und rechtzeitigen Bereitstellung von Wagen;
- die kontinuierliche Prognose der Wagennachfrage auf den Strecken und des Wagenangebots an den Ladestellen im internationalen Netzwerk;
- die dynamische Ableitung von Handlungsmaßnahmen durch Gegenüberstellung von Wagennachfrage und -angebot sowie die Identifikation von Diskrepanzen;
- die Evaluierung des ökonomischen und ökologischen Mehrwerts aufgrund höherer Konkurrenzfähigkeit und Attraktivität des Verkehrssystems Schiene.
Rechnen mit der Unsicherheit
Die Fraunhofer-Forscher starten allerdings nicht bei Null. Von 2015 bis 2017 haben sie gemeinsam mit der Spedition Hödlmayr und RISC Software ein ähnlich gelagertes Forschungsprojekt durchgeführt. „IPPO“ verfolgte damals ebenfalls das Ziel der proaktiven Kapazitätsanpassung – nur eben überwiegend auf der Straße. Schon damals waren allerdings auch Hödlmayr-Ganzzüge ein Thema. Und die im Vergleich zur Straße langen Vorlaufzeiten für die Planung zusätzlicher Züge waren ein weiterer Anstoß, den Ansatz auf die Schiene zu übertragen. Aus heutiger Sicht kann IPPO also als Vorarbeit zu „Backbone“ gesehen werden.
Die Methodik des aktuellen Projekts, sagt Georg Brunnthaller, sei sehr ähnlich gelagert: „Wir wollen die erwartete Nachfrage bei unterschiedlichen Güter- und Dienstleistungssegmenten in einem Transportnetzwerk modellieren. Und wir wollen modellieren, mit welcher Wahrscheinlichkeit man die richtigen Waggons zur richtigen Zeit am richtigen Ort zur Verfügung stellen kann.“ Wobei der Faktor „Wahrscheinlichkeit“ im Vergleich zu IPPO neu ist. „Damals sind wir relativ deterministisch vorgegangen, wir haben also versucht, den Transportbedarf zu prognostizieren“, erzählt Brunnthaller. Kaum berücksichtigt wurden aber prognostische Ungenauigkeiten: „Denn dann stellt sich ja die Frage: Will ich die kompletten Ressourcen sicherstellen, auch wenn der Bedarf nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintritt?“
Die Berücksichtigung dieser Unsicherheit erhöht natürlich die Zahl der notwendigen Datenquellen. Die Forscher wollen etwa vergangene Prognosen und Bedarfe miteinander vergleichen sowie Informationen über Folgeverkehre oder Wartezeiten berücksichtigen.
SmartCarco wird helfen
Eine äußerst wertvolle Datenquelle kann die Rail Cargo mit ihrem kürzlich gestarteten „SmartCargo“-Projekt selbst liefern. Die bis Ende 2020 projektierte Ausstattung sämtlicher Güterwaggons mit Telematik-Devices wird den Forschern in bisher unerreichter Exaktheit Informationen über den genauen Standort sämtlicher Assets liefern (siehe dazu Seite 38). SmartCargo, sagt Brunnthaller, wird das Backbone-Projekt natürlich extrem erleichtern. Das Hauptproblem – die Übergabe der Assets an andere Bahnen an der Grenze und das damit immer wieder verbundene Verschwinden vom eigenen Radar – wird damit der Vergangenheit angehören.
Rail Cargo zeigt Mut
Dass die Rail Cargo mit dem Backbone-Projekt durchaus Mut beweist, liegt auf der Hand. Immerhin bedeutet der Ansatz der proaktiven Kapazitätsanpassung auch eine tendenzielle Abkehr von lange gestiegenen Volumina bei Ganzzugsverkehren wieder hin zu modulareren Transportkonzepten im Einzelwagenverkehr. „Aus meiner Sicht“, sagt der Fraunhofer-Forscher, „müssen sich die Cargobahnen tatsächlich teilweise neu aufstellen.“
Und er streut nicht nur der heimischen Staatsbahn Rosen. Den immer wieder vorgebrachten Vorwurf, das System Bahn verschlafe generell gewisse Entwicklungen, während auf der Straße längst mit Platooning oder autonomen Fahrzeugen experimentiert wird, lässt er so nicht stehen. Einerseits sei es auf dem eigenen Ladehof oder im eigenen Hafen schon aus rechtlichen Gründen einfacher, Experimente zu wagen. Die teilöffentlichen Systeme der Bahn ließen vieles juristisch gar nicht zu. Hinzu kommen die zahlreichen unterschiedlichen Standards, die in Europa herrschen – und denen die Bahn als grenzüberschreitendes System gerecht werden muss. Georg Brunnthaller verweist etwa auf die immer noch manuellen Kupplungsvorgänge: „Natürlich wäre das längst automatisiert möglich, wie es in den USA ja bereits geschieht. Aber nicht in einem Umfeld, in dem verschiedene Kupplungsarten nebeneinander vorkommen.“
Anwendbarkeit gewünscht
„Backbone PI: Rail“ wird im Dezember 2020 abgeschlossen sein. Und soll ein sehr konkretes Ergebnis liefern. „Am Ende soll tatsächlich ein Algorithmus stehen, der zur proaktiven Kapazitätsanpassung auf der Schiene eingesetzt werden kann. Und es soll auch nachgewiesen sein, dass ein solches System wirtschaftlich darstellbar ist.“ Es wäre jedenfalls ein massiver Schritt, um die Güterbahn zum Transport-Rückgrat im Umfeld des Physical Internet zu machen.
Das Forschungsprojekt
Name: Digitale Transformation der Wagenplanung zur Etablierung der Schiene als Rückgrat des Physical Internet (Backbone PI: Rail).
Fördergeber: BMVIT, FFG.
Konsortialführer: Fraunhofer Austria Research GmbH
Partner: craftworks GmbH; Rail Cargo Austria AG, Wirtschaftsuniversität Wien, Forschungsinstitut für Supply Chain Management (SCM).
Laufzeit: Jänner 2019 bis Dezember 2020.