Analyse : Diese Unbekannten könnten Lieferketten 2022 herausfordern

Closeup businessman stop the crash of domino effect on the table
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„Obwohl die Nachfrage immer noch hoch ist, hoffen wir, dass es nach dem chinesischen Neujahrsfest erste Anzeichen für eine allmähliche Dekompression in den Lieferketten geben wird", schrieb das deutsche Transport- und Logistikunternehmen Hapag-Lloyd zum Jahreswechsel in einer Nachricht an die Kunden.

Das chinesische Neujahrsfest, das in diesem Jahr am 1. Februar 2022 stattfand, ist traditionell ein Höhepunkt des Konsums im bevölkerungsreichsten Land der Welt. Danach ebbt die Konsumnachfrage meist deutlich ab. Deshalb markiert diese Feier auch einen Richtwert für Logistiker, mit dem sie eine jährliche Entspannung der Lieferketten erwarten.

Der Ökonom Vincent Stamer, der beim Kiel Institut für Weltwirtschaft regelmäßig weltweite Schiffsbewegungen analysiert, sieht das Neujahrsfest in China in diesem Jahr zumindest als erste wichtige Wegmarke, schränkt aber zu viel Zuversicht ein: „Doch auch dann dürfte es noch dauern, bis das globale Liefernetzwerk wieder im Gleichtakt schwingt. Lieferverzögerungen und Engpässe könnten uns daher noch sehr weit ins laufende Jahr hinein beschäftigen", erwartet der Kieler Wirtschaftsforscher.

Für die neue Präsidentin des Verbands Deutscher Reeder, Gaby Bornheim, ist es „leider offen, wann sich die Situation bei den Lieferketten nachhaltig verbessern wird.“ Spätestens nachdem man die Pandemie besiegt habe, werde auch alles wieder besser fließen. „Die angespannten Lieferketten sind ganz klar Folge der Coronapandemie. Hier haben wir pandemiebedingt eine einmalige Situation, in der ganz viel zusammenkommt", so Bornheim.

Omikron und die höhere Ansteckungsgefahr

Die Arbeiter, die Waren auf Schiffen und Lastwagen ausliefern, tragen dabei die Hauptlast. Angesichts der wochenlangen Quarantäne, des unsicheren Grenzübertritts und der Angst, krank zu werden, verweigerten einige Mitarbeiter ihre Aufträge, während andere sich anderweitig um Arbeit bemühen, so die Unternehmen.

In Rumänien wollen viele Lkw-Fahrer keine Langstreckenjobs in anderen Teilen Europas annehmen, da sie von den 48-Kilometer-Staus des letzten Jahres und den Wartezeiten von bis zu 18 Stunden an den EU-Grenzen betroffen sind. Besonders problematisch seien die Länder, in denen die Zahl der Infektionen stark ansteigt, so Alex Constantinescu, Geschäftsführer von Alex International Transport 94 SRL, das 130 Lkw betreibt, die Arzneimittel und Lebensmittel auf dem gesamten Kontinent ausliefern.

Schon vor der Pandemie hatte das Transportgewerbe mit einem Fahrermangel zu kämpfen, jetzt hat sich die Arbeitskräftekrise noch verschärft, sagte er zu Bloomberg. Das Unternehmen musste die Löhne in den letzten drei Jahren um etwa 30 % anheben.

„Lange Fahrtzeiten, Schlafen im Fahrerhaus und die Ungewissheit, ob die Menschen, mit denen man zu tun hat, das Virus haben - Lkw-Fahren ist nicht mehr sehr attraktiv", so Constantinescu. "Ich schaue hinter mich und sehe keine neue Generation von Fahrern. Die Pandemie hat diese Arbeit sehr unattraktiv gemacht." In China ist es die Angst vor drakonischen Quarantänen aufgrund der Covid-Null-Strategie der Regierung, die die Fahrer fernhält.

„China wird große Probleme mit Omikron und seiner Zero-Covid-Politik bekommen“, schrieb auch der südafrikanische Epidemiologe Tulio de Oliveira Ende 2021 auf Twitter. De Oliveira und sein Team machten die WHO als Erste auf die Omikron-Variante aufmerksam. Die Politik Chinas führe dazu, dass LKW-Fahrer nicht bereit sind, dorthin zu fahren, wo sie unter Quarantäne gestellt werden könnten, sagte auch Salmon Aidan Lee, Leiter des Bereichs Polyester bei der Energieberatung Wood Mackenzie gegenüber Bloomberg. „Diese strengen Maßnahmen haben zu weiteren Problemen in der Lieferkette geführt, einige Polyesterfabriken mussten schließen.“

Auch die Schifffahrtsindustrie steht vor arbeitsrechtlichen Herausforderungen: „Wir können unsere Seeleute nicht einfach so an Bord bringen, wie wir das gewohnt waren und sie auch nicht ungehindert von Bord holen", berichtet die Chefin der Hamburger Peter Döhle Schiffahrts-KG, eine der größten deutschen Reedereien, zum Thema Omikron. "Da sind erhebliche Restriktionen, die sich in den einzelnen Häfen im Wochen-, manchmal auch im Tagesrhythmus ändern, sodass wir gar keine Sicherheit haben, jetzt Crewwechsel in vielen Teilen der Welt durchführen zu können."

Zwar hat sich die Krise des Besatzungswechsels, die Seeleute daran hinderte, nach Hause zu gehen und durch neue Seeleute ersetzt zu werden, Ende 2021 größtenteils entspannt, doch jetzt können die Unternehmen sie nicht mehr zurücklocken.

Weiteren Einblick in die Situation um fehlende Arbeitskräfte gibt der in Singapur ansässige Tankerbetreiber Western Shipping: 20 Prozent seiner rund 1.000 Seeleute wollen nicht mehr auf die Schiffe zurückkehren. Etwa fünf Prozent der 30.000 Seeleute der Anglo-Eastern Univan Group hatten im November 2021 angegeben, dass sie nicht an einem neuen Vertrag interessiert sind.

Western Shipping muss deshalb Seeleute von anderen Unternehmen anheuern und ihnen obendrein gute Prämien bieten, so Geschäftsführer Belal Ahmed, der auch Vorsitzender des International Maritime Employers' Council ist.

Der Mangel könnte sich noch verschärfen, da Reeder und Charterer verlangen, dass nur geimpfte Besatzungsmitglieder angeheuert werden. Und da Omikron weitere Auffrischungsimpfungen erfordert, verschärft sich der Mangel noch. Mitte November waren weniger als 30 Prozent der Seeleute aus Indien und den Philippinen, die zu den Ländern gehören, die am meisten Seeleute stellen, vollständig geimpft.

„Wir können den Seeleuten die Impfung nicht vorschreiben, aber die Kunden erklären, dass sie nur vollständig geimpfte Seeleute einsetzen werden", so Mark O'Neil, Geschäftsführer von Columbia Shipmanagement Ltd. „Es ist eine Herausforderung, diese riesigen Frachtschiffe in Bewegung zu halten". Wilhelmsen Ship Management, das einen Pool von rund 10.000 Seeleuten verwaltet, ist besorgt über den Trend, dass junge Offiziere Verträge ablehnen, auch wenn sich dies noch nicht auf die Gesamtbesatzungsrate des Unternehmens ausgewirkt hat, so CEO Carl Schou. Dennoch könnte die Pipeline der zukünftigen Offiziere, die eine jahrelange Ausbildung benötigen, unterbrochen werden".

„Lange Fahrtzeiten, Schlafen im Fahrerhaus und die Ungewissheit, ob die Menschen, mit denen man zu tun hat, das Virus haben – Lkw-Fahren ist nicht mehr sehr attraktiv“
Alex Constantinescu, Geschäftsführer von Alex International Transport 94 SRL

Chinas Zero-Covid-Strategie

Omikron ist nicht der einzige Grund, warum sich viele Häfen - vor allem die an der chinesischen Küste und der amerikanischen Westküste, zwischen denen die riesigen Handelsströme zwischen den beiden größten Volkswirtschaften abgewickelt werden - als gewaltiges Nadelöhr erweisen. In China wurden aufgrund der strikten Zero-Covid-Politik immer wieder Häfen ganz oder teilweise geschlossen, weil Hafenarbeiter coronainfiziert waren. Schiffe müssen tagelang auf das Be- und Entladen warten oder auf andere Häfen ausweichen, vor denen sich dann ebenfalls große Staus bilden.

Als Peking im September einige große Häfen wegen Covid-19-Fällen geschlossen hatte, lagen in der Folge mehr als 13 Prozent der weltweiten Güter auf Schiffen, die nicht in Bewegung waren. Wenn China – auch im Hinblick auf die stark ansteckende Omicron-Variante – weiterhin eine strikte Zero-Covid-Politik fährt, dürften geschlossene Hafenterminals in China auch 2022 ein Thema bleiben. Zusätzlich habe der Impfstoff, der in China verwendet wurde, eine schlechte Wirksamkeit gegen Omikron, so der deutsche Virologe Christian Drosten gegenüber der Sonntagszeitung. „Das ist eine echte Gefahr für die Weltwirtschaft.“

Der Chef des heimischen Transportlogistikers Gebrüder Weiss, Wolfram Senger-Weiss, sieht die Situation wohl etwas gelassener, wenn er auf das Chaos in den globalen Lieferketten angesprochen wird: „Sie haben das Wort Chaos verwendet. Ganz so schlimm ist es nicht, die Prozesse funktionieren weiter.“ Es gebe zwar deutliche Verzögerungen in der Laufzeit, aber prinzipiell funktioniere die globale Weltwirtschaft auch heute ganz gut. „Es gab einen Peak Mitte 2021, seitdem hat sich die Situation etwas gebessert.“

Die Engpässe sehe er vor allem in den Häfen und in den Nachläufen, sprich bei der Entladung und der Bahn- und LKW-Verkehre zu den Kunden und retour. Dadurch sei der Durchlauf verzögert und die Wartezeiten länger. Der Ökonom Vincent Stamer schätzt, dass derzeit mehr als elf Prozent der weltweit verschifften Güter auf unbewegten Schiffen parkt. Das sei „schon eine relevante Größe“, sagt Senger-Weiss im Gespräch mit dispo – vor allem wenn man bedenkt, dass 90 Prozent der globalen Warenströme per Containerschiff transportiert werden.

Doch nicht nur Chinas Häfen gelten derzeit als Nadelöhr – auch vor dem Port of Los Angeles und vor Long Beach in direkter Nachbarschaft, den beiden wichtigsten Häfen an der US-Westküste, liegen massenhaft Schiffe auf Reede. Hier kommt dann auch der Fachkräftemangel – vor allem der LKW-Fahrermangel – erschwerend hinzu. Denn aufgrund dessen funktionieren auch die Hinterlandverkehre nicht.

Fehlende Container

Lange Zeit waren auch fehlende Container ein großes Problem, weil die Transportboxen wegen Verspätungen in den Fahrplänen nicht dort waren, wo sie zur neuen Beladung sein sollten. Normalerweise sind Container zum Beispiel bei Hapag-Lloyd 50 Tage unterwegs, bevor sie wieder beladen werden können, aufgrund der Überlastungen der Häfen sind es mehr als 60 Tage. Um das auszugleichen, hat allein die Hamburger Großreederei seit 2020 insgesamt 625.000 neue Transportboxen eingekauft.

Die Hafen-Wien-Tochter WienCont profitiert vom Containermangel: Zwar werden derzeit Container-Reparaturen verstärkt in Fernost durchgeführt anstatt in Europa, was dem Unternehmen rückläufige Umsätze im Bereich der Containerreparatur mit sich bringt. WienCont profitiert aber vom Mangel einsatzfähiger Container in Österreich, indem sie Verlader Leercontainer zum Verkauf bietet. Das Geschäft in diesem Bereich florierte trotz Krise.

Aktueller Störungsindex

Der Schweizer Logistikkonzern Kühne+Nagel zeigt in seinem neuen „Global Disruption Indicator“, dass derzeit mehr als 600 Schiffe vor den großen Häfen der Welt warten. Das sorgt natürlich weiterhin für extreme Lieferverzögerungen. Der Indikator des Logistikunternehmens steht heute bei 11,56 Millionen "Container-Tagen" und ist damit seit Anfang Dezember um fast das Doppelte angestiegen. Vor der Pandemie lag der Wert für diese neun Häfen stets unter einer Million, wie der Logistiker berichtet. Eine solche Situation, wie sie im Moment zu beobachten ist, habe es bis zum Ausbruch der Pandemie nie gegeben.

Besonders die amerikanischen Häfen, die in dem Indikator von K+N erfasst werden, bereiten der internationalen Seefahrt Probleme: Derzeit sind laut Berechnungen von Kühne+Nagel etwa 80 Prozent der Störungen in Lieferketten auf nordamerikanische Häfen zurückzuführen. "Teilweise liegen Schiffe seit dem 21. Dezember auf der Höhe von Mexiko, die in Los Angeles entladen werden sollen", so Sprecher Dominique Nadelhofer.

Der Ökonom des Kieler Instituts für Weltwirtschaft Vincent Stamer sieht weiterhin aber die Zero-Covid-Poltik Chinas als größte Gefahr. Bestätigt wird diese Befürchtung auch von den Entwicklungen, die der Experte im Roten Meer beobachtet. Auf der wichtigsten Schiffs-Handelsroute zwischen Europa und Asien werden gegenwärtig 15 Prozent weniger Waren transportiert, als unter normalen Umständen zu erwarten wären. Einen solchen Einbruch habe es zuletzt Mitte des Jahres 2020 gegeben, in der ersten Hochphase der Pandemie.

Für Europa können globale Lieferkettenstörungen auf Dauer extreme Folgen haben. Das liegt vor allem an der Dimension, die der internationale Schiffsverkehr mittlerweile einnimmt: Laut ifo-Institut werden knapp 80 Prozent der EU-Exporte in Nicht-EU-Mitgliedsländer per Schiff transportiert. Gleichzeitig werden die Schiffe immer größer und damit weniger flexibel, es kommt zu einem konzentrierten Routenangebot.

© Kühne+Nagel

„Deutliche Reduktion der Mengen nicht in Sicht“

Gebrüder Weiss-Chef Wolfram Senger-Weiss: „Die Lage hat sich etwas stabilisiert, auf hohem Niveau auch die Preise.“ Eine kurzfristige Erleichterung sei nicht zu erwarten. „Ich glaube, dass es noch lange dauern wird, bis wir wieder auf das Niveau wie vor der Pandemie kommen – wenn wir dies überhaupt je wieder erreichen. Das heißt umgekehrt: Um eine wirkliche Entlastung zu bekommen, bräuchte es eine deutliche Reduktion der Mengen, die momentan nicht in Sicht sei. Aber wie wir wissen, kann alles heute sehr schnell gehen“, erklärt er im dispo-Gespräch.

Man könne mit keinen raschen Lösungen rechnen, die Lieferketten hätten sich „einfach verlängert. Die Prozesse haben sich gewissermaßen eingespielt, aber die exogenen Faktoren bleiben gleich.“ „Es kommen zwar sukzessive neue Schiffe auf den Markt, aber die werden sich ebenfalls vor den Häfen ‚hintanstellen‘ müssen. Es sind auch Investitionen in den Häfen geplant – gerade in Los Angeles oder Singapur – das alles wird jedoch noch eine Zeit dauern.“

Der Präsident der Industriellenvereinigung, Georg Knill, ist für 2022 optimistisch, trotz Lieferengpässen. Diese seien zurückzuführen auf das starke Wirtschaftswachstum und die damit einhergehend überdurchschnittlich hohe Nachfrage, die kurzfristig nicht gedeckt werden konnte. Mit der Normalisierung der Nachfrage und dem Aufbau neuer Kapazitäten dürften sich auch die Lieferprobleme langsam lösen, erwartet Knill.