Lieferkette : „Eine sich gegenseitig verstärkende negative Spirale“
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Was der Lockdown in Shanghai für die weltweiten Lieferketten bedeutet, erklärt Alexander Till, seit 15 Jahren Repräsentant des Hamburger Hafens in Wien, mit einem anschaulichen Beispiel: „wenn Shanghai eine Woche im Lockdown ist, wird eine Menge nicht umgeschlagen, die der Strecke Wien-New York entspricht. Ich glaube, dass dieses Bild aus Aussage für sich selber steht“, so Till auf Anfrage von Dispo. Denn der Hafen von Shanghai ist mit 47 Millionen TEU Umschlag der größte Containerhafen der Welt - das sind pro Kalenderwoche fast eine Million TEU Umschlag.
Doch der Hafen ist von den Einschränkungen – derzeit zumindest – weitgehend ausgenommen. Der 24-Stunden-Betrieb in der Shanghai International Port Group geht weiter. Die Hafenarbeiter verbleiben auf dem Gelände, sie übernachten dort in Quartieren. Allerdings kann die Entscheidung, Teile der Anlagen oder den gesamten Hafen zu schließen, jederzeit fallen. Experten wagen keine Voraussagen. Auch das macht die Situation derzeit schwierig.
Trotzdem der Hafen offen ist, kommt es zu einem anhaltenden Stau von Frachtschiffen. Das Exportvolumen des größten Hafens der Welt ist Schätzungen zufolge schon um rund 40 Prozent zurückgegangen.
Auch Hamburger Hafen betroffen
Das bekommt auch der für Österreich wichtige Hafen Hamburg deutlich zu spüren. Infolge großer Schiffsverspätungen stauen sich die Container auf den Terminals, was zu einer Überlastung der Lager führt, wie Hans-Jörg Heims, Sprecher des Hamburger Hafenlogistikers HHLA, sagte. Eine ganze Reihe von Schiffen müsse daher derzeit vor Helgoland warten, bis ein Platz in ihrem Zielhafen frei werde.
Laut Heims sind es zehn Frachter, die zurzeit nach Hamburg wollen. "Das kann von ein paar Tagen bis zu einigen Wochen dauern." Trotz aller Bemühungen und eines Großeinsatzes von Personal und Technik komme es zu Verzögerungen bei der Abfertigung.
Die HHLA habe bereits zusätzliche Flächen mit Containern belegt. "Aber wir kommen an Grenzen, je länger die Situation auf den Lieferketten so angespannt bleibt", berichtete Heims. Je mehr Container in einem Lager stehen, umso größer sei der Aufwand beim Umschlag und desto länger dauere die Abfertigung. Früher habe man 500 Meter gebraucht, um einen Container vom Lager zum Schiff zu bringen. Heute seien das manchmal 1,5 Kilometer - je nachdem, wo der Container stehe. Erschwert wurde die Situation auf einem Terminal im Hamburger Hafen durch Bauarbeiten für Landstrom. Dadurch habe ein Liegeplatz zeitweise nicht genutzt werden können.
"Die Schockwellen, die der Stillstand hier in China auslöst, sind noch gar nicht im vollen Umfang fassbar", sagt Maximilian Butek, der Delegierte der Deutschen Wirtschaft in Shanghai. Es dürften Monate vergehen, um die Störungen in den Lieferketten zu beheben. Der Hafen an sich sei nicht das größte Problem. Die Schwierigkeit liege wegen der strengen Coronamaßnahmen vielmehr im Transport der Waren mit Lastwagen von und zum Hafen.
"Das betrifft im Prinzip alle Warengruppen. Aber vor allem bei Elektronikartikeln und Rohstoffen oder Vorprodukten ist die Sorge groß", sagte der Delegierte. Der Lockdown betreffe mittlerweile alle Unternehmen - unabhängig von Branche oder Größe. Es gebe massive Beeinträchtigungen der Lieferketten, der Transport- und Logistik-Möglichkeiten oder beim Personal und in der Produktion.
Vorsichtig optimistisch gibt sich Rolf Habben Jansen, Chef der Reederei Hapag-Lloyd. "Wir sehen jetzt auch die ersten Zeichen, dass wieder mehr Ladung in den Häfen von Shanghai und Ningbo abgefertigt wird", sagte er den Fernsehsendern RTL und ntv. Er persönlich erwarte daher, dass sich die Situation in den chinesischen Häfen in vier bis sechs Wochen weitestgehend normalisiert.
Ihren Ausgang nahmen die Turbulenzen bereits mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie vor zwei Jahren in China, als Häfen dichtmachten. Container stauten sich an den Terminals und Lkw konnten sie nicht aus den Häfen abtransportieren. Ware drohte zu verderben, da es an den Terminals nicht genug Steckdosen gab. "Damals hat man zwei große Schiffe auf Reede liegen lassen, um die Steckdosen an Bord für die Kühlcontainer zu nutzen", erzählt der Sprecher der Maersk-Tochter Hamburg-Süd, Rainer Horn.
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Explodierende Frachtraten
Doch nicht nur die Schließung von Häfen ist für die Situation verantwortlich, die Logistik-Verantwortlichen seit zwei Jahren Kopfzerbrechen bereitet. Denn der Konsum ist durch die Pandemie in den Jahren 2020 und 2021 sehr stark gewesen. „Dadurch gab es eine permanente Knappheit an Frachtraum“, führt Alexander Till aus. „Diese Knappheit gepaart mit den Lockdowns in Hafenstädten hat dazu geführt, dass die Importeure immer größere Mengen bestellt haben und somit den Effekt noch verstärkt haben. Dadurch setzte sozusagen eine Panik ein, die dazu geführt hat, dass sich innerhalb weniger Wochen die Transportraten auf 20.000 US-Dollar pro 40-Fuß-Container verzehnfacht haben. In den letzten acht Wochen haben sich die Frachtraten wieder etwas entspannt und sind auf etwa 12.000 US-Dollar pro 40-Fuß-Container gesunken. Jedoch nimmt man an, dass bei neuerlichen Lockdowns oder Sperrungen von Häfen die Raten wieder ansteigen werden.“ Zum Vergleich: Im Jänner 2020 musste man für einen 40-Fuß-Container noch 2.000 US-Dollar zahlen.
Auch bei der ersten globalen Konferenz der Branche seit der Pandemie, die Singapore Maritime Week, sprach der stellvertretende Ministerpräsident des Hafenstaates Singapur, Heng Swee Keat, bei der Eröffnung über die hohen Frachtraten und prognostizierte, dass sie nicht von Dauer sein werden: „Wir sollten das nicht erwarten. Anhaltend hohe Raten werden den Handel dämpfen und das Lebenselixier der Weltwirtschaft untergraben", sagte Heng. Denn große Schwankungen bei den Schifffahrtsgebühren führten zu Unsicherheit und bremsten das Wachstum des Sektors.
Derzeit seien die Schifffahrtskapazitäten ausgelastet, so Heng. „In den nächsten Jahren werden neue Kapazitäten in Betrieb genommen. Darin liegt die Gefahr, dass übermäßige Investitionen in den Schiffbau zu einer erneuten Kapazitätsschwemme führen könnten, wie wir sie nach der globalen Finanzkrise erlebt haben.“ Tatsächlich sind die Auftragsbüchern der Werften weltweit auf ein 14-Jahres-Hoch angewachsen.
„Im weltweiten Geschehen spielen Russland und die Ukraine keine ausschlaggebende Rolle im Überseeverkehr. Natürlich sind wir jedoch alle über Umwege betroffen.“Alexander Till, Repräsentant des Hamburger Hafens in Wien
Neuaufträge für Containerschiffe auf 14-Jahres-Hoch
Im Oktober 2020 hatte der Auftragsbestand mit einer Kapazität knapp unter zwei Millionen Standardcontainern (TEU) einen Tiefstand nach der Finanzkrise erreicht, wie der internationale Reederverband Bimco berichtet. In den achtzehn Monaten seither haben die Linienreedereien Rekordgewinne erzielt, die zu einem großen Teil in Neubauaufträge geflossen sind. In dieser Zeit seien die Auftragsbücher für Containerschiffe um sechs Millionen TEU erweitert worden, sagt Bimco-Analyst Niels Rasmussen: "Damit hat der Auftragsbestand zum ersten Mal seit Ende 2008 die Marke von 6,5 Millionen TEU überschritten."
In der globalen Containerschifffahrt sind laut Branchendienst Alphaliner derzeit Schiffe mit einer Kapazität von 25,5 Millionen TEU unterwegs. Mehr als 80 Prozent davon entfallen auf die Top 10 der Branche. "Zusätzlich zu den Auslieferungen von Neubauten müssen wir davon ausgehen, dass sich die Überlastungsprobleme in der Welt allmählich lösen werden", sagte Rasmussen. Dadurch könnten zusätzlich bis zu zwei Millionen TEU an effektivem Angebot freigesetzt werden.
Alexander Till fasst zusammen: „Derzeit sind zusätzliche fünf Millionen TEU bestellt, die bis etwa 2025 in den Dienst gestellt werden. Abzüglich der etwa einen Million TEU, die aufgrund ihres Alters verschrottet werden, bedeutet das ein Plus von cirka 16 Prozent.“ Das sei „deutlich mehr als in den Jahren zuvor“ – die Reeder schätzten die Situation in der Zukunft also weiterhin mit einem Anstieg bei den Mengen ein.
Ob damit die Transportkapazitäten auf den Ozeanen in gleichem Maß steigen, ist aber fraglich. Denn angesichts wachsender Vorgaben bei der Energieeffizienz kämen Reedereien nicht umhin, Schiffe zu verschrotten. Für andere müssten die Reeder die Fahrgeschwindigkeit drosseln, was auch die Verfügbarkeit von Transportkapazität mindert.
Umbrüche im Frachtgeschäft
Die anhaltende Situation verändert auch den Markt: Reedereien investieren etwa in Fluglinien, Containerterminals und Lkw-Flotten, um ihren Kunden alles aus einer Hand anzubieten: Transporte vom Werkstor bis ins Lager der Abnehmer oder zu den Kunden nach Hause. Weltmarktführer MCS etwa hat zusammen mit der Lufthansa ein Auge auf die italienische Staatsairline ITA geworfen und will ein Luftfracht- und ein Passagiergeschäft aufbauen. Maersk und CMA haben Frachtflugzeuge bestellt. Die Dänen haben mit Maersk Air Freight schon ein Standbein im Luftfrachtgeschäft. Jetzt will der Konzern aus Kopenhagen das Logistikunternehmen Senator International übernehmen, eine große Luftfrachtspedition aus Hamburg mit weltweit rund 2.000 Mitarbeitern.
Der weltgrößte Onlinehändler Amazon will ebenfalls groß ins Frachtgeschäft einsteigen und gräbt den Speditionen seinerseits Geschäft ab, indem der Konzern Kapazitäten in Containerschiffen und Frachtflugzeugen bucht. Der Logistikkonzern Kühne und Nagel hat bereits alle Spielarten von der Luft- über die Seefracht bis zum Transport auf Land im Angebot.
Auch Ukraine-Konflikt belastet Schifffahrt
„Während ein Sturm gerade abklingt, ziehen die Wolken des nächsten schon am Horizont herauf. Gerade als wir auf das Abflauen der Omikron-Welle hofften, schlug eine weitere Welle zu – die russische Invasion in der Ukraine“, sagte Heng Swee Keat bei der Eröffnungsrede der Singapore Maritime Week.
Der Krieg in der Ukraine habe die Schifffahrt bereits stärker belastet, da die Lieferung von Luft- und Schienenfracht unterbrochen wurde, aber die "starken Fundamentaldaten" der Schifffahrtsindustrie bedeuten, dass ihre mittelfristigen Aussichten immer noch gut sind, so Heng.
Dies gelte trotz der mehr als 100 Schiffe, die derzeit aufgrund des bewaffneten Konflikts in den Häfen des Schwarzen Meeres festsäßen, und trotz potenzieller Probleme mit den Arbeitskräften, da Russland und die Ukraine 15 Prozent der weltweit in der Schifffahrt Beschäftigten ausmachten.
Auf Dispo-Anfrage antwortete Alexander Till, dass der Konflikt Russland/Ukraine natürlich spürbar sei, da sowohl russische als auch ukrainische Häfen nicht mehr von Schiffen angelaufen werden können. „Im weltweiten Geschehen spielen die Länder aber keine ausschlaggebende Rolle im Überseeverkehr. Natürlich sind wir jedoch alle über Umwege betroffen, was beispielsweise einzelne Bauteile für die Automotive-Industrie betrifft. Dies kann dazu führen, dass der Angriffskrieg auf die Ukraine am Ende des Tages doch bedeutet, dass Zigtausende TEU weniger transportiert werden, was bedeutet, dass Produkte nicht finalisiert werden können.“
Ein Insider bei einer großen Reederei erklärte kürzlich, „Russland wurde von der Karte getilgt, ist durch die Sanktionen praktisch nicht mehr existent". Selbst Buchungen, bei denen der Transport bereits zugesagt war, seien storniert worden, berichtet etwa Maersk-Sprecher Horn. Fleisch oder Früchte aus Südamerika etwa. "Kunden können gebührenfrei ein neues, alternatives Ziel für die Ladung festlegen."
Dennoch laufen die Häfen an der Nordsee voll, weil Reedereien Container zwischenlagern müssen, die sie nicht nach Russland transportieren dürfen. Davon profitieren die Containerterminals. Beim Hamburger Hafen- und Logistikkonzern sprudelt der Gewinn schon länger, weil wegen der Corona-bedingt mehrwöchigen Schiffsverspätungen Container länger im Hafen stehen, für die die HHLA Standgelder kassiert.
In russischen Häfen stehen derweil Zehntausende leere Container ungenutzt herum, die sonst von den Schiffen auf der Rückfahrt mitgenommen werden, wenn ihre Ladung gelöscht ist. Die Container werden wegen der Engpässe andernorts dringend benötigt. 50.000 entfallen allein auf die dänische Reederei Maersk. Die versucht nun, die Stahlboxen mit dem Zug aus Russland herauszuschaffen. Doch auf einen Zug passen je nach Länge 80 bis 100 Container, auf einem Schiff können es leicht 10.000 und mehr sein.
Grundsätzlich handle es sich um eine sich „gegenseitig verstärkende negative Spirale“, so Till: 90 Prozent der Schiffe sind nicht mehr im Fahrplan, speziell auf dem Trade Far East-Europe und Far East-Usa. Dies führt dazu, dass in den weltweiten Häfen die Abfertigung nur noch sehr verlangsamt durchgeführt werden kann; was wiederum dazu führt, dass der Stau vor den Häfen zunimmt.“