Coronavirus und Lagerlogistik : Setzen Logistiker in Zukunft auf Läger?

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Die europäische Autoindustrie befindet sich im Corona-bedingten Krisenmodus. Auf der einen Seite ist der Absatz von Autos in ganz Europa eingebrochen, da momentan nur wenige Menschen sich mit dem Kauf eines Neuwagens beschäftigen. Aber selbst, wenn der Bedarf da wäre, hätten viele Hersteller und Zulieferer derzeit massive Lieferprobleme. Ein Hauptgrund hierbei sind die fehlenden Material- und Teilelager, die im Zuge der Just-In-Time-Produktionsstrategie in der Automobilbranche seit Jahrzehnten üblich ist. Ziel von Just-In-Time ist es Lieferkosten einzusparen und Bestellprozesse zu optimieren. Läger werden überall, wo es logistisch möglich ist klein gehalten oder eingespart. „Das Prinzip der Just-In-Time-Produktion hat die Supply Chain in der Automobilbranche profitabler, aber auch viel anfälliger für Störungen gemacht. Hier wird es im Zuge der Corona-Krise vor allem kleinere und mittlere Unternehmen treffen, die bisher bereits seit einem halben Jahr mit einem Negativtrend in der Automobilindustrie zu kämpfen hatten. Da geht es ans Eingemachte.“, prognostiziert Andreas Breinbauer, Rektor der FH des BFI Wien und Leiter der Studiengänge Logistik und Transportmanagement. Aber wie reagieren die Automobilhersteller angesichts der Corona-Krise?

Autoindustrie bisher von Corona unbeeindruckt

Erste Reaktionen bedeutender Vertreter lassen nicht darauf schließen, dass die Covid-19-Krise zu einem generellen Umdenken innerhalb der Branche führen wird: Der Zulieferer ZF Friedrichshafen AG, einer der Weltmarktführer im Bereich der Herstellung von Antriebs- und Fahrwerktechnik, sieht auch nach Corona keine unmittelbare Notwendigkeit die globalen Lieferketten zu überdenken: „Drohende Lieferengpässe können vermieden werden, indem wir aus anderen Werken unseres weltweiten Produktionsnetzwerks liefern, manchmal mit umständlicheren Transportwegen, notfalls per Luftfracht. Die branchenübliche Lieferung Just-In-Time bleibt aber bestehen – ein Aufbau von Sicherheitsbeständen als Puffer ist nicht geplant.“ Was geschieht allerdings, wenn auch die alternativen Fabriken der globalen Lieferkette und die Ersatzlieferanten von Corona betroffen sind? Dieses Szenario ist bei der rasanten Ausbreitung des Virus, die in den letzten Wochen beobachtet werden konnte, nicht mehr von der Hand zu weisen.

Die Krise als Chance für die Logistik

Die Corona-Krise kann auch eine Chance sein, sich mit besonders riskanten und störungsanfälligen Lieferketten auseinanderzusetzen. „Ich hoffe sehr, dass die Corona-Krise dazu führt, dass die Unternehmen ab sofort das Thema Risikomanagement vermehrt in den Mittelpunkt stellen. Dazu gehört neben der Reduzierung der Abhängigkeit von einzelnen Lieferanten auch der Aufbau von Lägern für strategische Produkte.“, sagt Carsten Knauer vom Bundesverband für Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik.

Gegen ein Lager sprechen vor allem Kostengründe. Insbesondere bei komplexen, wartungsintensiven Gütern müssen Unternehmen vorab prüfen, ob ein Lager wirtschaftlich Sinn macht. „Dabei kann eine Kosten-Nutzen-Analyse aufzeigen, in wie weit der Nutzen einer gesicherten Produktion und Versorgung die Kosten eines Lagers und der Lagerung selbst übersteigt oder auch nicht. In jedem Falle sollten solche Teile bevorratet werden ohne die ein Produktion nicht möglich ist und von denen eine strategische Abhängigkeit durch Single Sourcing besteht.“, empfiehlt Knauer.

Lieferengpässe gab es auch vor Corona

Die so wichtige Puffer-Funktion eines Lagers, die den vollständigen Produktionsstopp abwenden kann, werden zwar derzeit durch die Corona-Krise besonders deutlich, aber auch bereits vor Covid-19-Zeiten kam es in Europa zu Situationen, in denen Unternehmen sich gewünscht hätten, in ein gut bestücktes Materiallager investiert zu haben. Im Jahr 2017 kam es zu Streckensperrungen im Bereich des Güterverkehrs durch die Absenkung von Gleisen im deutschen Rastatt, im Bereich der Binnenschifffahrt sind Lieferschwierigkeiten immer wieder dadurch entstanden, dass die Ladung reduziert werden musste, um den Tiefgang der Schiffe in Rhein oder auch der Donau zu reduzieren.

Nicht nur innerhalb des Bereiches der Industrie, auch im Bereich der Medikamentenproduktion sind Störungen globaler Lieferketten nichts Neues. Laut Apothekerkammer-Präsidentin Dr. Ulrike Mursch-Edlmayr gehörten Störungen der Lieferketten im Bereich der Medikamentenproduktion bereits vor Corona zum österreichischen Alltag. „Aktuell sind keine speziellen Auswirkungen durch Corona auf die Versorgung mit Arzneimitteln in Österreich zu bemerken. Dass es dazu noch kommen kann, ist allerdings nicht auszuschließen.“, so Mursch-Edlmayr weiter. Problematisch sei hierbei auch die Reduzierung der Lagerbestände von Medikamenten und medizinischer Schutzausrüstung. Geringe Lagerbestände und die Auslagerung der Produktion nach China und Indien sind laut Apothekerkammer die Hauptgründe für die derzeitigen Lieferschwierigkeiten in diesen Bereichen.

Was kann man aus der Corona-Krise lernen?

Im Bereich der Katastrophenlogistik, wird die Corona-Krise dafür sorgen, dass Staaten in Zukunft dafür sorgen werden, genügend Medizinprodukte und Schutzausrüstung im eigenen Land vorrätig zu haben. Laut Knauer, der laufend im Gespräch mit zahlreichen Unternehmen unterschiedlicher Branchen ist, werden aber auch gewinnorientierte Unternehmen Lehren aus der Covid-19-Krise ziehen: „Betrachtet man die immensen Anstrengungen der Logistiker und Supply Chain Manger in der aktuellen Krise die Lieferketten aufrecht zu erhalten, braucht es meiner Meinung nach keine zusätzlichen Anreize als die, die gerade durch den Corona-Virus gesetzt wurden.“

Die Lehren, die Unternehmen aus der Krise ziehen, führen aber nicht zwingend zu erhöhten Lagerbeständen, sondern zu ganz anderen Maßnahmen, sagt Martin Riester, Gruppenleiter für Logistiksysteme und Transport bei Fraunhofer Austria. Laut ihm ist es in der derzeitigen Situation ein Trugschluss, wenn man meint dass die Erhaltung von Lägern ein pauschal geeignetes Mittel darstellen würde, um auf künftige Krisen zu reagieren: „In Krisensituationen ist es ebenso wichtig liquide zu sein, um Gehälter auszahlen zu können“, sagt Martin Riester. Es ist also durchaus nachvollziehbar, wenn Unternehmen auch nach erlebter Covid-19-Krise nicht in Läger investieren würden. Darüber hinaus sind zukaufseitig fehlende Bauteile oder nicht existente Materiallager nicht der einzige Grund für den derzeitigen Stillstand von Teilen der weltweiten Industrie. Zusätzlich zu der empfindlichen Störung der Lieferketten ist der Absatzmarkt für viele Produkte vollständig eingebrochen. „Ein volles Lager, zukauf- oder absatzseitig, bringt keinen Vorteil, wenn man keine Produkte verkaufen kann.“, so Riester.

Eine wesentlich wichtigere Lektion, die aus der Corona-Krise von Logistikern gelernt werden kann, ist, dass eine aktive Netzwerk- und Supply Chain-Planung dafür sorgt, dass Unternehmen krisensicherer sind. Diese Strategie erfordert aber laut Riester die Fähigkeit mit großen Datenmengen umgehen und Informationen ableiten zu können. Um auf die nächste große Krise vorbereitet zu sein, kann es also empfehlenswert sein, in Digitalisierungsprozesse zu investieren. „Eine aktive Netzwerk- und Supply Chain Planung machen ein Unternehmen krisensicherer. Die Situation zeigt, dass Transparenz und Reaktionsfähigkeit die Qualitäten sind, die einem Unternehmen in der Krise helfen, und diese Reaktionsfähigkeit erreicht man durch eine smarte Netzwerkplanung, durch digitale Bestandsprognose und -disposition, sowie durch eine umfassende logistische Kapazitätsplanung. Das erfordert allerdings die Fähigkeit, mit großen Datenmengen umgehen zu können.“

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