Supplychain-Management : Beschaffung: „Man kauft immer noch da, wo es am günstigsten ist“
Sie haben gemeinsam mit Rico Merkert das Buch „Global Logistics and Supply Chain Strategies for the 2020s – Vital Skills for The Next Generation” verfasst. Was ist der Hintergrund, und welche Bedeutung hat es für die Zukunft?
Kai Hoberg Die Idee kam mir und meinem Kollegen Rico Merkert zwischen Herbst 2019 und Frühjahr 2020, als Corona zugeschlagen hat. Da haben wir gesagt: Wir brauchen jetzt einen Blick auf die Entwicklung im Supply-Chain-Management in diesem Jahrzehnt. Das ist zwar ein sehr großes Thema, aber es gibt viele Gründe, warum in diesem Jahrzehnt sehr viel passieren wird: Von der Digitalisierung zur Resilienz-Diskussion, über das Thema Geopolitik und den Einfluss, den das Thema auf die Supply Chains haben wird, bis hin zum Klimaschutz und low carbon und grüner Logistik. Es hat dann ein bisschen gedauert, bis das Buch Ende letzten Jahres fertig geworden ist. Wir haben dazu ein für uns innovatives Konzept verfolgt: Wir haben in jedem Kapitel einen Akademikerblick auf das Thema von führenden Experten. Zusätzlich haben wir zu jedem Thema auch eine Praktiker-Sichtweise von hochrangigen Managern, sodass wir uns jedem Thema aus beiden Blickwinkeln nähern. Wir beleuchten zum einen sehr viele Themengebiete – etwa wie man Netzwerke in der Zukunft aufbaut, welche Rolle künstliche Intelligenz in der Planung spielt - oder behandeln in mehreren Deep Dives verschiedene Logistikspezialgebiete wie Air Cargo, maritime Logistik oder Technologistik – und bringen beide Sichtweisen zusammen.
Wie haben Sie die Themen definiert?
Hoberg Da waren natürlich Themen aufgrund der Relevanz gesetzt und dazu haben wir geschaut wen wir kennen, der einen guten Blick auf das Thema hat. Da mein Kollege in Sydney und ich gut vernetzt sind, haben wir bis auf ein Thema alle Themen abdecken können.
Welches war das?
Hoberg Uns interessieren auch die sozialen Aspekte im Supply-Chain-Management, also etwa Arbeitsbedingungen in den Fabriken in Bangladesch und Afrika. Hier gibt es tatsächlich sehr wenige Experten, die sich damit auskennen. Der Kollege, den wir angefragt hatten, war leider bereits überlastet. Das ist sicherlich ein Thema, das auch immer wichtiger wird, in dem aber noch nicht so viele Leute aktiv sind.
Erwarten Sie sich dabei eine Änderung durch das Lieferkettengesetz?
Hoberg Hier muss etwas passieren und es passiert auch schon sehr viel. Es wird versucht, hohe Transparenz zu schaffen, wo man selbst einkauft und wo der Vorlieferant einkauft. Dann wird durch Audits versucht sicherzustellen, dass die Mindeststandards eingehalten werden. Aber ich glaube man kauft immer noch da, wo es am günstigsten ist. Natürlich hat man dann auch Mindeststandards einzuhalten, aber Unternehmen, die sich das wirklich auf die Fahne heften und voll auf Transparenz setzen, sind leider noch eher die Ausnahmen.
Wie geht es Unternehmen mit dem Thema Lieferkettengesetz?
Hoberg Es ist mit viel Arbeit verbunden. Das ist ein Thema, in dem sich viele Unternehmen noch nicht auskennen und wo jetzt sehr schnell sehr viel Know-how aufgebaut werden muss. Gerade bei mittelständischen Unternehmen merkt man, dass sie noch nicht verstehen wie sie das angehen oder sicherstellen sollen. Aber sie wollen natürlich. Hier muss man den Balanceakt finden: Was kann man in einer idealen Welt erwarten - und was ist praktikabel und realistisch abbildbar? Jetzt ist die Erwartung sehr stark in eine Richtung orientiert, aber es ist für viele Firmen eine Herausforderung, überhaupt zu erfassen, wer ihre Second-Tier- oder Third-Tier-Lieferanten sind. Mit ihnen hat man keine Verträge. Die direkten Lieferanten wollen teilweise gar nicht teilen, mit wem sie zusammenarbeiten, weil sie Sorge haben, übergangen zu werden und die Unternehmen mit dem Zulieferer dann direkt zusammenarbeiten. Das führt zu sehr schwierigen Diskussionen, vor allem wenn man Unternehmen hat, die nicht in der EU sind, sondern irgendwo in Asien: Dort gibt es vermutlich wenig Verständnis für eine deutsches oder EU-Lieferkettengesetz. Das wird also sicherlich ein längerer Weg werden.
Dazu ist es auch wichtig, Daten auszutauschen. Wie geht es Unternehmen damit?
Hoberg Leider gibt es viele Unternehmen, die sich schwertun, auch mit guten Partnern Daten auszutauschen, weil die Sorge da ist, dass einem das selbst zum Nachteil gereicht. Aus diesem Grund forschen wir gerade an dem Tool „Zero-Knowledge-Proof“. Das bedeutet, dass man ohne genaues Wissen der ursprünglichen Daten eine Bestätigung bekommt, ob eine Anforderung erfüllt wird. Einfaches Beispiel: Ich bin zwar jetzt schon aus dem Alter raus, bei dem ich meinen Personalausweis vorzeigen muss, um Alkohol zu kaufen, aber angenommen ich müsste meinen Personalausweis vorzeigen, um zu beweisen, dass ich über 18 bin. Wenn ich dem Verkäufer meinen Ausweis gebe, sieht er das Geburtsdatum. Vielleicht will ich gar nicht, dass er das genaue Datum weiß oder meine Adresse sehen kann. Die Idee von Zero-Knowledge-Proofs ist, sicherzustellen, dass die Anforderungen erfüllt werden, ohne die Daten dahinter zu verraten. In dem Fall des Personalausweises würde ich ihn auf einen Scanner legen, und der prüft, ob ich 18 bin, und zeigt ein grünes Licht an. So hat der Verkäufer nicht alle Daten gesehen, aber er weiß trotzdem das ist okay. Und genauso gibt es da Gedanken, Daten wie Bestände, Kapazitäten oder CO2-Fussabdrücke auszutauschen, ohne alle Informationen weiterzugeben.
Woran forschen Sie aktuell noch konkret?
Hoberg Ich habe drei Themen-Schwerpunkte. Der eine ist der Einsatz von neuen Technologien im Supply-Chain-Management, etwa wie man Internet of Things-Daten von Fahrzeugen sinnvoll nutzen kann. Wir haben zum Beispiel eine Partnerschaft mit einem Unternehmen, bei dem viele tausend Fahrzeuge im 15-Minuten-Takt Dinge wie GPS-Location, Geschwindigkeit, Bremseingriffe und noch vieles mehr übertragen. Die Frage ist hier: Was kann man mit dieser Technologie für Use Cases entwickeln? Das passt sehr gut zu dem zweiten Thema, das sich darum dreht, wie Daten genutzt werden können. Hier haben wir eine Kooperation mit einem großen Anbieter von Analytics-Lösungen, die Prognosen für sehr viele Händler machen, um entsprechend die Belieferung zu steuern. Ein Händler hat aber viele Planer, die die Prognosen anpassen – aus vielerlei Gründen. Ein KI-System weiß eben nicht alles, hat etwa keine Daten über lokale Events oder Wettbewerberaktionen, und eine KI weiß auch nicht, wenn vor dem Geschäft etwa eine Baustelle ist. Wir haben uns angesehen, wann die Planer denken, eingreifen zu müssen, weil sie ihrer Meinung die Prognose verbessern können. Dazu haben wir einen riesigen Datensatz – und in ungefähr 95% der Prognosen trauen die Planer der KI und in 5% der Prognosen greifen sie. Wir haben weiter analysiert, ob die Eingriffe die Prognose besser oder schlechter machen. Wir geben den Planern also Feedback an die Hand. Das dritte Forschungsgebiet betrifft strategische Themen. Alle sprechen etwa von Reshoring und dass die Produktion zurückkommt. Wir haben uns beispielsweise angesehen, welche Faktoren das begünstigen, und wo die Herausforderungen liegen.
Das Thema Transparenz und Datenverfügbarkeit zieht sich also durch alle Bereiche.
Hoberg Ich glaube, da sind sehr wenige Unternehmen wirklich weit – bis auf beispielsweise Amazon. Wenn man sich andere große Unternehmen ansieht, verfügen die nicht über die Ressourcen, die Talente und die Skills, um das wirklich so voranzutreiben, wie das bei Amazon in den letzten Jahren passiert ist. Da müssen wir uns nichts vormachen. 2017 gab es einen spannenden Artikel im englischen Harvard Business Manager, der hieß „The Death of Supply Chain Management“. Dort hieß es, dass in naher Zukunft alles optimiert und transparent ist und Daten so verfügbar sind, dass im Prinzip gar kein Supply-Chain-Management mehr benötigt wird, weil alles automatisch läuft. Das läuft unter dem Begriff „lights out“. Damals haben wir den Artikel sehr belächelt – und dann kam Corona, wo die Planer Überstunden geschoben haben, um irgendwie sicherzustellen, dass sie die benötigten Mengen bekommen. Da war man weit weg von „lights out“. Ich kann mir noch nicht vorstellen, wann die Logistik kein People Business mehr ist.
Im Buch beschreiben Sie, welche Fähigkeiten für die nächste Generation erforderlich sein werden. Welche sind das denn?
Hoberg Wir haben da eine einfache Sichtweise: Die Mitarbeiter benötigen Hard Skills, Soft Skills und analytische Fähigkeiten. Sie müssen zumindest die Fähigkeiten haben, mit Daten zu arbeiten und vielleicht mehr zu benutzen als nur Excel. Das ist der erste Punkt. Zweitens müssen sie mehr Fähigkeiten über die gesamte Supply Chain entwickeln - wir nennen das End-to-End-Denken, um wirklich zu verstehen, wie Dinge miteinander zusammenhängen. Aber natürlich brauchen wir weiterhin Menschen, die sich im Warehousing auskennen und Lager bauen und betreiben können. In Sachen Softskills müssen Menschen auch lernen besser zu kommunizieren - zu ganz unterschiedlichen Zielgruppen wie Lieferanten, Kunden oder dem Finance-Kollegen. Im letzten Jahr ist deutlich geworden, wie wenig andere Menschen die Bereiche Logistik und Supply-Chain-Management verstehen. Alle im Unternehmen haben irgendwie etwas damit zu tun, es herrscht aber wenig Wissen, wie die Zusammenhänge sind. Generell ist das Thema lebenslanges Lernen sehr wichtig – vor allem bei den rasanten Entwicklungen. Das ist auch für uns Professoren eine Herausforderung, dabei Schritt zu halten.
Kai Hoberg ist Professor für Supply Chain and Operations Strategy an der KLU (Kühne Logistics University). Zuletzt hat er gemeinsam mit Prof. Rico Merkert das Buch Global Logistics and Supply Chain Strategies for the 2020s – Vital Skills for The Next Generation herausgegeben.