Digital Twin in der Logistik : Digitaler Zwilling für die Lieferkette

Mashup der Weltkarte, Andeutung einer Lieferkette
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Die Komplexität der weltweiten Lieferketten nimmt kontinuierlich zu. So prägen heute dichte, miteinander verflochtene Netzwerke mit vielfältigen Wechselbeziehungen das Bild in der Lieferkette. Nicht kalkulierbare, geopolitische Krisen zwangen Unternehmen in den vergangenen Jahren dazu, eine Vielzahl an Transportmodi, Zusatzservices und ergänzenden Dienstleistern in ihr Portfolio zu integrieren.

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Zudem sehen sich Firmen mit weiteren Herausforderungen konfrontiert: So erwarten Kunden heute eine zunehmend pünktliche, zuverlässige, kostengünstige sowie nachhaltige Lieferung von Waren. Hinzu kommen neue regulatorische Rahmenbedingungen, wie sie beispielsweise in den ESG-Standards (Environmental, Social and Corporate Governance) definiert sind.

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Gleichzeitig stellt die Digitalisierung von Geschäftsprozessen Unternehmen weiterhin vor große Herausforderungen. Häufig beschäftigen sich Digitalisierungsprojekte ausschließlich mit der Automatisierung von Prozessen und dem Management von Daten. Eine ganzheitliche Transformation findet in den meisten Fällen nicht statt. Dies bestätigen auch die Ergebnisse der Studie „Triple Transformation: Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Resilienz als Leitlinien zukunftsfähiger Wertschöpfungsketten“ der Bundesvereinigung Logistik (BVL). Demnach hat lediglich knapp ein Viertel der befragten Unternehmen bereits eine vollständige digitale Transformation vollzogen.

Physische Infrastruktur digital abbilden

Auch bei der Digitalisierung der Lieferketten herrscht noch großer Nachholbedarf. Um diesen Prozess zu optimieren und zu beschleunigen, bietet sich für Unternehmen das Konzept des digitalen Zwillings an. Im ursprünglichen Sinne handelt es sich dabei um die virtuelle Version von Objekten, Prozessen oder Systemen in Echtzeit. Im modernen Kontext fungiert der digitale Zwilling vor allem als originalgetreues Abbild einer physischen Infrastruktur, um den laufenden Betrieb zu unterstützen und interne Datenströme auszuwerten. Auch in der Logistik kommt der digitale Zwilling immer häufiger zum Einsatz. Durch die digitale Abbildung der Strukturen innerhalb der Lieferkette lässt sich die Digitalisierung und Optimierung der Geschäftsprozesse maßgeblich vorantreiben.

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Allerdings verlangen moderne Lieferketten ein hohes Maß an Flexibilität und Transparenz, was die Einsatzmöglichkeiten eines digitalen Zwillings für Logistikprozesse erweitert. Dabei erhöht die durchgängige Digitalisierung der Lieferketten deren Widerstandsfähigkeit (Resilienz) gegenüber Störungen und verbindet alle beteiligten Akteure nahtlos miteinander. So wird es möglich, sämtliche Prozesse ineinandergreifend, virtuell und transparent abzubilden und zu steuern, sodass sich die gesamte Lieferkette nach digitalen, nachhaltigen und resilienten Gesichtspunkten steuern lässt. Optimiert werden damit Workflows wie beispielsweise die Kommissionierung und Ein-/ Auslagerung im Lager, das Verwalten von Transportressourcen auf dem Hof des Lagers oder auch die Organisation eines mehrstufigen Transports zu Zielen in Übersee. Hierbei lassen sich mittels eines digitalen Zwillings kostenoptimierte Lösungen identifizieren und umsetzen. Dies gelingt trotz der wachsenden Komplexität moderner Liefernetzwerke, die eine unüberschaubare Vielzahl möglicher Kombinationen und Knotenpunkte beinhalten.

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Erfahrene Umsetzungspartner ins Boot holen

Damit der digitale Zwilling einen messbaren Mehrwert für die Geschäftsprozesse liefern kann, bedarf es bei der Implementierung einer durchdachten und klar definierten Herangehensweise. Bewährt hat sich dabei für Unternehmen, erfahrene externe Umsetzungspartner mit ins Boot zu holen.

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KPS etwa hat ein lösungsorientiertes Vorgehen nach erprobtem Muster entwickelt: Am Anfang steht dabei eine gründliche Analyse der internen Unternehmensstrukturen. Im Rahmen eines sogenannten „Health Check“ werden die Prozesse der gesamten Supply Chain umfassend ausgewertet und in einen strategischen Kontext gesetzt. Hierbei lassen sich vorhandene Bedarfslücken aufspüren und potenzielle Optimierungshebel identifizieren.

Dabei ist es sinnvoll, auch die Perspektive außenstehender Logistikpartner einzubeziehen, um auch externe Entwicklungen hinreichend zu berücksichtigen. Im Anschluss leiten die Experten zweckmäßige Maßnahmen ab, um sowohl Herausforderungen als auch Chancen adäquat zu adressieren. Abschließend wird ein individueller Umsetzungsrahmen abgesteckt. Dieser berücksichtigt den aktuellen Handlungsspielraum des Unternehmens und legt fest, ob und wann sich die Implementierung eines digitalen Zwillings lohnt.

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Bei der konkreten Umsetzung empfiehlt es sich, dem Maßnahmenpaket unterschiedliche Betrachtungshorizonte zugrunde zu legen. Auf diese Weise lassen sich differenzierte Entscheidungen sowie Vor- und Nachteile des digitalen Zwillings im Rahmen eines vordefinierten Frameworks abwägen. Dabei ist es ratsam, zunächst einen einzelnen Logistikprozess wie etwa die Anlieferung von Waren abzubilden. Darauffolgend sollten mehrere Bestandteile der Lieferkette durchgängig vernetzt werden, bevor dann im dritten Schritt ein extern orientiertes Netzwerk aufgebaut wird.

Bei Beachtung dieser Empfehlungen haben digitale Zwillinge ein immenses Potenzial, interne und externe Unternehmensprozesse auf unterschiedlichen Ebenen zu gestalten und zu steuern. Wichtig dabei ist es, auch prozessbegleitende und unterstützende Technologien wie etwa künstliche Intelligenz (KI) in den Workflow einzubeziehen. Diese ist in der Lage, eigenständig wiederkehrende Muster in den Prozessen zu erkennen. Unabdingbare Voraussetzung hierfür ist jedoch eine umfassende und qualitativ hochwertige Datenbasis.

Faktor Mensch ausreichend berücksichtigen

Doch auch der Faktor Mensch sollte ausreichend Berücksichtigung finden: So stoßen Mitarbeitende in der heutigen, sich schnell verändernden Arbeitswelt häufig an ihre Grenzen, was zu Fehlern in geschäftskritischen Prozessen führen kann. Die Digitalisierung der Workflows schafft hier Abhilfe. Beispielsweise lassen sich durch die Nutzung von Künstlicher Intelligenz stark repetitive Tätigkeiten automatisieren, sodass Mitarbeitende spürbar entlastet werden. Der digitale Zwilling dieser Prozesse bietet hierfür eine solide Grundlage. Dennoch gibt es aufgrund unvorhersehbarer Entwicklungen Situationen, in denen das menschliche Einschätzungsvermögen weiterhin gefragt ist.

Während der digitale Zwilling große Mengen an Daten schnell auswertet und Wirkzusammenhänge ermittelt, kann ein Mensch diese Informationen zielführend interpretieren und bei Bedarf Korrekturen vornehmen.

Der digitale Zwilling in der Praxis: Wie ein Textileinzelhändler profitiert

Welche Vorteile die Implementierung eines digitalen Zwillings tatsächlich entfalten kann, zeigt ein Anwendungsbeispiel aus der Praxis: Ein führender Textileinzelhändler stand vor der Aufgabe, die unterschiedlichen Filialen eines weitläufigen osteuropäischen Netzwerks möglichst effizient zu beliefern. Daher sollte ein digitaler Zwilling für das entsprechende Distributionszentrum geschaffen werden.

Das Projekt stellte die Verantwortlichen vor einige Herausforderungen: Große Lagermengen von bis zu mehreren Millionen Artikeln erfordern im Textilmarkt kurze Durchlauf- und Lagerzeiten, wobei die Systeme gleichzeitig sehr hohe Volumina abdecken müssen. Zudem sollte die Echtzeit-Materialflusskontrolle vom Lager bis zu den Filialen verbessert werden, um so die Verfügbarkeit der Waren gezielter zu steuern und mögliche Hindernisse in der Distribution zu identifizieren.

In einem mehrstufigen Vorgehen wurden zunächst auf Basis einer umfassenden Analyse bereits bestehende Systeme und Prozesse des Distributionszentrums umfassend digitalisiert. Auf dieser Grundlage ließen sich Prozesse, die für die Widerstandsfähigkeit der Lieferkette entscheidend sind, kosteneffizient planen und durchführen. Im Anschluss wurde das digitale Abbild der physischen Infrastruktur realitätsgetreu modelliert. Die neu gewonnene Transparenz über Arbeitsabläufe und die Echtzeit-Ansicht der Betriebsflächen optimiert die Abläufe unter Kostenaspekten.

Abschließend wurde der digitale Zwilling nahtlos in die existierende IT-Landschaft integriert und die Schnittstelle zwischen digitaler Welt und dem realen Arbeitsbereich des Personals über benutzerfreundliche Bedienoberflächen geschaffen.

Im Ergebnis profitiert der Textileinzelhändler durch die Einführung des digitalen Zwillings von Effizienzsteigerungen auf unterschiedlichen Ebenen und optimierten Geschäftsprozessen. So lässt sich jede Bewegung innerhalb der virtuellen Umgebung über eine Applikation in der realen Arbeitsumgebung kontrollieren und steuern. Die Organisation von Waren und deren Planung an die Empfänger und damit auch der Packgrößen etc. erfolgt komplett digital mit einer Schnittstelle zu automatisierten Prozessen im Warehouse. Somit ist es möglich, Inbound- sowie Outbound-Transporte kosteneffizient zu planen und Aufträge an beteiligte Logistikpartner optimal auszusteuern. Darüber hinaus ließ sich die gesamte Lieferkette durchgängig orchestrieren, was die strategische Geschäftssteuerung vereinfacht. Digitalisierte Prozesse und die Visualisierung der physischen Infrastruktur generieren validierte, verwertbare Erkenntnisse. Diese ebnen den Weg für schnelle und faktenbasierte Entscheidungen. Ein weiterer Vorteil: Mitarbeitende können bei entsprechender Berechtigung uneingeschränkt auf neue Informationen und Daten zugreifen, sodass sich die interne Wertschöpfung steigern lässt.

Tobias Götz
Der Autor, Tobias Götz, ist Managing Partner bei KPS und Experte für Supply-Chain-Themen. Neben diversen Publikationen rund ums Supply Chain Management und aktueller Technologien ist er Dozent für Logistik und Transport an der DHBW Mannheim. Zu seinen Schwerpunkten gehören internationale IT-Transformationen und die Begleitung von Kunden von der ersten Idee über die Umsetzung bis zur Nachbetreuung. - © KPS