Gastkommentar : Wie Papier die Lieferkette verstopft

Ein Containerschiff im Hafen: Die Entwicklung der Frachtraten ist regional sehr unterschiedlich.
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2010 bricht der isländische Vulkan Eyjafjallajökull aus und 100.000 Flüge werden gestrichen. Fracht im Wert von fast 50 Milliarden Euro erreicht ihre Ziele erheblich verspätet. Als der Lufthandel um den isländischen Luftraum herumgeleitet wird, müssen Unternehmen schnell alternative Kapazitäten in unbekannten Handelsrouten identifizieren und buchen. Die gleiche logistische Herausforderung wie in der Pandemie oder beim Ukraine-Krieg. Erfolgskritisch ist hier, die relevanten Informationen einer Fracht mit bestehenden oder neuen Lieferpartnern möglichst schnell auszutauschen und abzufertigen. Also all das bereitzustellen, was in den bis zu 50 Seiten des Frachtbriefes steht.

Potraitfoto von Dachser-Manager Michael Rainer
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600 Jahre später

Man stellt sich das als eine hochautomatisierte, von Supercomputern unterstützte Börse vor. Tatsächlich werden 2023 hierfür immer noch Berge von Papier ausgetauscht. Ja, 30 Jahre nach dem „Start“ des Internets und 25 Jahre nach der Etablierung rein digitaler, grenzüberschreitender E-Commerce-Prozesse ist die Handelsdokumentation per Schiff immer noch auf die physische Übertragung von Papierunterlagen angewiesen und zu 99 % manuell. Obwohl seit über 25 Jahren mehrere elektrische und gut funktionierende Frachtbriefe existieren, werden nur 1 % aller Frachtbriefe elektrisch versandt. Während die Banken- und Luftfahrtindustrie digitale Standards implementiert haben, die automatisierte Handelssysteme ermöglichen, ist die Schifffahrt nicht weit über das hinaus gereift, was sie im 15. Jahrhundert war.

Die Lieferkette bekommt mächtig Stress

Allein der bis zu 50-seitige Dokumentationsprozess einer Fracht, an dem bis zu 30 verschiedene Personen beteiligt sein können, dauert rund sechs Stunden oder länger. Der ursprüngliche Frachtbrief erfordert immer noch, dass viele Interessengruppen verschiedene Papierkopien ausdrucken, stempeln und unterschreiben, bevor sie als Luftexpresssendungen physisch vom Ursprungsort zum Bestimmungsort transportiert werden. Die Pandemie offenbarte die Brüchigkeit dieses Systems. Während ein Großteil der Arbeitsplätze remote ins Homeoffice verlagert werden kann, bleiben tausende Container mit fehlenden oder falschen Dokumenten in Häfen liegen, da Flüge mit den physischen Handelsdokumenten für diese Container storniert wurden. Werden Unterlagen nicht verifiziert, können Betreiber eines Seeterminals oder Zollbehörden die Ladung nicht freigeben.

Eine gigantische globale Kettenreaktion bricht los

Es folgen dramatische Umsatzeinbußen und höhere Kosten für die Versender, das bis zu einem totalen Wertverlust gehen kann, wenn etwa Saisonware ihr Lieferdatum verfehlt. Dabei hätten diese Komplikationen durch eine transparente und zugängliche digitale Dokumentation vermieden werden können. Die Digitalisierung spielt eine Schlüsselrolle beim Aufbau von Lieferketten-Resilienz, da sie den Informationsfluss ermöglicht. Wie Untersuchungen zeigen, könnte die Einführung eines elektronischen Frachtbriefs zu direkten Kosteneinsparungen für alle Beteiligten führen, die sich auf 6 Milliarden Euro pro Jahr belaufen. Spediteure könnten Vorteile in Höhe von bis zu zwei Milliarden Euro pro Jahr erzielen, wie z. B. eine direktere Interaktion mit Verladern sowie optimierte und digitalisierte Arbeitslasten, die zu Kosteneinsparungen führen.

Andere komplexe Branchen sind bereits digitalisiert

Banken haben mit der Etablierung von SWIFT, einem Informationsaustauschsystem mit allgemeingültigen und festen Standards für sichere Transaktionen, viele Dokumentationsprozesse erfolgreich digitalisiert. Die Luftfahrtindustrie und die International Air Transport Association (IATA) haben den elektronischen Luftfrachtbrief für Frachtsendungen – einen digitalen Prozess, der die papierbasierte Handelsdokumentation ersetzt – von einem kleinen Prozentsatz im Jahr 2012 auf mehr als 50 Prozent im Jahr 2017 skaliert. Diese Digitalisierungsreisen zeigen, dass der Seehandel die digitale Handelsdokumentation in 3 bis 4 Jahren einführen und bis 2030 eine 100-prozentige Akzeptanz erreichen kann.

Was die Digitalisierung bisher bremste

Die Digitalisierung des Frachtbriefs war bisher langsam und schwierig, da verschiedene Interessengruppen an dem Prozess beteiligt sind, die alle unterschiedliche Interessen, Bedürfnisse und Systeme haben – und individuell angesprochen werden müssen. Darüber hinaus sind viele weitere Dokumente über eine Vielzahl von Schnittstellen mit dem Frachtbriefprozess verbunden, sodass einzelne Digitalisierungsinitiativen aufgrund der begrenzten Wirkung, die ein einzelner Stakeholder allein erzielen kann, möglicherweise als unattraktiv abgetan wurden. Darüber hinaus ist der Frachtbrief ein Eigentumsdokument und erfordert daher die höchstmöglichen Sicherheitsstandards, die über E-Mail- oder EDI-Standards hinausgehen. Immerhin wurden Daten- und Prozessstandards für die Übermittlung von Versandanweisungen und die Ausstellung des Frachtbriefs bereits durch die Digital Container Shipping Association (DCSA) festgelegt und von neun Containerfrachtführern akzeptiert, die 70 Prozent des Containerhandels ausmachen.

Die Milliarden-Euro-Chance

Die internationale Handelskammer (ICC) prognostiziert, dass der papierlose Handel bis 2026 zusätzliche Exporte in Höhe von 250 Milliarden Euro in die G7-Länder schaffen könnte. Die ICC stellt fest, dass die Nutzung papierbasierter Prozesse eine außerordentliche Belastung für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) darstellt, die international handeln möchten – und dass die Digitalisierung dazu beitragen würde, diese Handelsfinanzierungslücke zu schließen. Eine Analyse von McKinsey zeigt, dass die Digitalisierung des Frachtbriefs – die 10 bis 30 Prozent der Kosten für die Handelsdokumentation ausmacht – jährlich mehr als 14 Milliarden Euro an direkten Vorteilen für das Schifffahrtsökosystem und bis zu 38 Milliarden Euro an gesteigertem Handel freisetzen könnte.

Michael Rainer ist Managing Director Air & Sea Logistics von Dachser Austria.