Supply Chain Management : So könnte Österreich besser auf Krisen und Lieferengpässe vorbereitet sein
Welche Folgen hat es für die Wirtschaft, wenn eine Brücke einstürzt, wie gerade eben in Baltimore? Wie sieht es aus, wenn es in einer Region zu Überflutungen kommt, ein bewaffneter Konflikt entsteht oder eine Epidemie ausbricht? „Die ökonomischen Auswirkungen solcher Krisen einschätzen – vielleicht sogar vorhersagen – zu können, ist essenziell, wenn es darum geht, die Schäden abzufedern und ihnen entgegenzuwirken“, erklärt Christian Diem vom Complexity Science Hub.
In einer aktuellen Studie, die in PNAS Nexus erschienen ist, zeigt ein Forschungsteam des CSH erstmals, dass üblicherweise genutzte Wirtschaftsdaten auf Sektorenebene ökonomische Auswirkungen von Krisen um bis zu 37 Prozent unterschätzen, als wenn neue, extrem detaillierte Daten auf Unternehmensebene herangezogen werden.
Stefan Thurner hat schon vor einigen Monaten im Gespräch mit dispo detailliert erläutert, wie die standardisierte Erhebung von Mehrwertsteuerdaten, die alle inländischen B2B-Geschäfte erfassen, das europäische Lieferkettengesetz mit einem Schlag obsolet machen könnte: "Es wird noch die ein oder andere Supply-Chain-Krise brauchen, um wachgerüttelt zu werden"
„Uns stand für diese Studie ein einzigartiger Datensatz aus Ungarn zur Verfügung, der mit 243.399 Unternehmen beinahe alle Firmen des Landes sowie ihre 1.104.141 Lieferbeziehungen beinhaltet und somit quasi die gesamte Volkswirtschaft abbildet“, erklärt Thurner die aktuelle Erhebung.
1000 hypothetische Krisen - gespeist aus realen Szenarien
Dadurch konnten die Forschenden erstmals systematisch analysieren und vergleichen, wie unterschiedlich die Auswirkungen von Krisen eingeschätzt werden, wenn entweder nur Daten zu den 88 von der EU definierten Wirtschaftssektoren vorhanden sind oder wenn detaillierte Lieferkettendaten auf Firmenebene zur Verfügung stehen, die alle Unternehmen sowie ihre Kund:innen-Lieferant:innen-Beziehungen beinhalten.
Dazu simulierten die Forschenden die Auswirkungen von 1.000 hypothetischen Krisenszenarien. Um sicherzustellen, dass diese Szenarien reale Krisen nachbilden, basieren die hypothetischen Krisen auf tatsächlichen Krisen – nämlich auf empirischen Daten zu den wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Krise Anfang des Jahres 2020.
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„Wir stellten sehr überraschend fest, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen für jede einzelne der 1.000 simulierten Krisen systematisch unterschätzt wurden – und das um bis zu etwa 40 Prozent – wenn wir nur die Daten ganzer Sektoren verwenden, wie das eigentlich bisher immer der Fall ist“, sagt Diem.
Darüber hinaus kamen die Ergebnisse auf Unternehmensebene der tatsächlichen Rezession im zweiten Quartal 2020 sehr viel näher. Die Folgen einer Krise werden demnach mit Daten auf Sektorenebene immer kleiner eingeschätzt, als sie für die Firmen tatsächlich sind.
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"Wir beschreiben nicht mehr nur einen Durchschnitt für einen ganzen Wirtschaftszweig"
„Bislang wird die Wirtschaft eines Landes hauptsächlich auf Ebene ganzer Wirtschaftssektoren beschrieben“, erklärt Thurner. „Man spricht also davon, wie stark etwa die gesamte Automobilindustrie oder der Tourismus von einer Naturkatastrophe wie einem Erdbeben oder einem Lieferengpass betroffen sind. Die neuen Daten der gesamten Lieferkette auf Firmenebene erlauben uns gewissermaßen die Atome der Wirtschaft zu sehen – die Firmen – und wie sie miteinander wechselwirken. Das ist wissenschaftlich extremes Neuland und extrem faszinierend“, so der Wissenschafter und weiter: „Das heißt, wir beschreiben nicht mehr nur einen Durchschnitt für einen ganzen Wirtschaftszweig, sondern können berechnen, wie unterschiedlich stark die einzelnen Unternehmen innerhalb dieser Wirtschaftssektoren von einer Krise betroffen sind.“
„Es macht einen enormen Unterschied, ob man lediglich sagen kann, dass ein Wirtschaftszweig zum Beispiel Einbußen von 20 Prozent erleiden wird, oder ob eine Simulation zeigen kann, welche Firmen genau von einer Krise betroffen sind und – vielleicht noch wichtiger – wie sich das im Liefernetzwerk ausbreitet, also auf ihre direkten und indirekten Handelspartner:innen auswirkt“, erklärt Diem.
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Beispiel für den Unterschied der Datenqualität von Unternehmen oder Sektoren
Das CSH versucht in einem vereinfachten Beispiel den Unterschied zwischen der Qualität der Daten auf Unternehmensebene und auf Sektorenebene darzustellen, ausgehend von der Annahme, es gebe nur zwei Firmen im Metallsektor.
Firma A beliefert hauptsächlich die Automobilindustrie und Firma B verkauft vor allem an die Bauindustrie. Wenn es bei Firma A zu einem Produktionsstopp kommt – etwa durch eine Naturkatastrophe – würde sich das stark auf die Automobilindustrie auswirken, aber kaum auf die Bauindustrie. Mit Daten auf Sektorenebene sähe es allerdings so aus, als wirkte sich der Ausfall gleichermaßen auf die Automobilindustrie und auf die Bauindustrie aus.
Träfe das Erdbeben die Firma B, wären die Auswirkungen umgekehrt. Da aber die Daten zu ganzen Wirtschaftssektoren nicht zwischen den beiden Firmen unterscheiden können, führen diese fast immer zu einer Fehlschätzung der wirklichen Auswirkungen.
„Durch das Zusammenfassen aller Unternehmen in einen Wirtschaftszweig geht so viel Information über die Struktur des Liefernetzwerks verloren, dass man schlicht nicht mehr ermitteln kann, wer wirklich von einem Ausfall betroffen sein wird und in welchem Ausmaß“, so Diem.
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Die Vorteile anderer Länder, die mehr Daten erheben
Daten auf Unternehmensebene hingegen beinhalten sämtliche Firmen eines Landes und alle ihre Lieferbeziehungen. „Länder wie Ungarn, Spanien oder Belgien, die eine standardisierte Mehrwertsteuererhebung haben, wo alle Business-to-Business-Geschäfte erfasst werden, haben solche Daten bereits“, erklärt Thurner. In Ländern wie Österreich, wo die Mehrwertsteuer kumulativ erhoben wird, fehlen sie.
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Zusätzlicher bürokratischer Aufwand für die Unternehmen würde durch eine standardisierte Erhebung nicht entstehen. „Durch die doppelte Buchhaltung könnte das automatisiert passieren“, erklärt Diem. Außerdem können so Formen des Mehrwertsteuerbetrugs reduziert werden. In Österreich wurde dieser im Jahr 2021 auf 883 Millionen und EU-weit auf 61 Milliarden geschätzt.
„Mit dieser Studie wollten wir zeigen, wie stark die Einschätzungen auf Grundlage aggregierter Sektorendaten von den Schätzungen mit granularen Daten und den tatsächlichen wirtschaftlichen Auswirkungen abweichen können und wie wichtig es daher ist, detaillierte Daten auf Firmenebene zu erheben“, so Diem. Denn ob es nun um eine Überflutungskatastrophe, CO2-Emissionen oder die Auswirkungen politischer Interventionen geht, eine akkurate Einschätzung hilft die Folgen abzusehen und früh und vor allem punktgenau zu reagieren.