Europäische Lieferkette : „Es wird noch die ein oder andere Supply-Krise brauchen, um wachgerüttelt zu werden“

Immer wieder wird von Regierungen und Unternehmen betont, wie wichtig es ist, Lieferketten abzusichern und sich vor Störungen zu schützen. Und auch Zahlen untermauern das sehr deutlich: Der finanzielle Schaden, der aufgrund von Lieferunterbrechungen im Jahr 2021 entstanden ist, beläuft sich auf 1,9 Billionen US-Dollar.

Dennoch zögern Unternehmen häufig, wenn es darum geht, dafür notwendige Daten miteinander zu teilen und zu verknüpfen. Doch es gibt mehrere „schwerwiegende Gründe“ für eine solche Allianz, wie das Complexity Science Hub in einer Studie zusammengefasst hat.

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Eine aktuelle Studie belegt, was mehrere Industriebetriebe im Dispo-Gespräch hervorheben: Kooperative Zusammenarbeit und der Datenaustausch innerhalb der Lieferkette ist ein entscheidender Faktor, um die Effizienz von Beschaffungsprozessen zu steigern.

"Lange Zeit war es undenkbar, die Weltwirtschaft auf Unternehmensebene zu analysieren, und noch viel weniger ihr komplexes Netzwerk von Lieferverflechtungen", erklärt Anton Pichler vom Complexity Science Hub (CSH). Fast ein Jahrhundert lang hätten nur aggregierte Daten analysiert werden können - also die Durchschnittswerte ganzer Industriesektoren. Deshalb sei es unmöglich vorherzusehen, wie sich einzelne Ausfälle auf das System auswirkten.

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Denn es gibt weltweit rund 300 Millionen Firmen, die jeweils im Durchschnitt 40 inländische Zulieferer haben. Dadurch entstehen bis zu 13 Milliarden Lieferverbindungen. Trotz dieser gigantischen Datenmenge können Forschende nun die Verknüpfungen zwischen einzelnen Unternehmen abbilden – am effizientesten mit Mehrwertsteuerdaten.

Allerdings erheben nur einzelne Länder wie etwa Spanien, Ungarn oder Belgien standardisiert Mehrwertsteuerdaten. So erfassen sie praktisch alle inländischen B2B-Geschäfte – und damit ist es möglich, den gesamten nationalen Handel eines Landes abzubilden. „In vielen europäischen Ländern, so auch in Österreich, Deutschland oder Frankreich, gibt es diese Daten zu Mehrwertsteuerflüssen nicht. Deswegen sind wir hier sehr blind“, erklärt Stefan Thurner, Letztautor der Studie und Präsident des Complexity Science Hub, im Gespräch mit Dispo. In den meisten Ländern wird die Mehrwertsteuer eben nicht für einzelne B2B-Umsätze, sondern nur kumuliert für einen bestimmten Zeitraum erhoben.

„Dabei könnte eine standardisierte Erhebung auch den Verwaltungsaufwand für die Unternehmen verringern und erheblich zur Einhaltung der Steuervorschriften beitragen“, erklärt CSH-Forscher Christian Diem. Schätzungen zufolge belaufen sich die betrügerischen Aktivitäten im Zusammenhang mit der Mehrwertsteuer allein in der Europäischen Union (EU) auf jährlich 130 Milliarden Euro: eine Steuerlücke, die mit den standardisierten Mehrwertsteuerdaten massiv verkleinert werden könnte.

Nicht nur im Kampf gegen Steuerhinterziehung, sondern auch für andere große Herausforderungen sei es unerlässlich zu wissen, wie Versorgungsnetze – idealerweise auf globaler Ebene – aussehen, machen die Forschenden in ihrer Studie deutlich. „Für einzelne Firmen ist es so gut wie unmöglich sicherzustellen, dass alle Handelspartner, deren Zulieferer sowie die Zulieferer ihrer Zulieferer umweltschonend und menschenrechtskonform agieren. Würde das zentral in einem gigantischen Netzwerk erfasst, könnte man das viel eher gewährleisten“, betont Pichler.

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Der nächste Schritt besteht darin, Handelsdaten verschiedener Länder miteinander zu verknüpfen, so die Idee des CSH. Aktuell erfasst die EU den Warenhandel zwischen ihren Mitgliedsstaaten auf Unternehmensebene. Wenn sie jedoch auch Dienstleistungen einbezieht und sie mit Mehrwertsteuerdaten verknüpft, könnte dies zu einem umfassenden länderübergreifenden Netzwerk auf Unternehmensebene führen. Dieses würde fast 20 Prozent des weltweiten BIP ausmachen, so die Autoren und Autorinnen. Den rechtlichen Grundstein dafür legte die Europäische Kommission durch ihren Vorschlag "Mehrwertsteuer im digitalen Zeitalter".

"Leider ist das noch weit von der Realisierung entfernt", sagt CSH-Präsident Thurner. "Bisher haben wir keinen einzigen Fall, wo die Lieferkettennetzwerke von zwei Ländern miteinander verbunden und fusioniert wurden. Dies wäre ein entscheidender nächster Schritt." Um dieses Vorhaben voranzutreiben, sei ein starkes internationales Bündnis verschiedener Interessengruppen erforderlich. Um diesem Bündnis etwas näher zu kommen, haben die Forschenden des CSH gemeinsam mit jenen der University of Cambridge und der University of Oxford im Juni Vertreter von europäischen Ministerien, Nationalbanken, statistischen Ämtern und weitere Forschende zu einem ersten Workshop in Wien geladen. „Mir war dabei wichtig, eine Frage zu klären: Wenn wir in Europa Länder haben, die ihre Supply Chain aufgrund dieser Datensätze kennen könnten – kann man diese zwei Länder verbinden um zu zeigen, dass ein solcher Austausch möglich ist?“

Dabei entstünden Fragen wie etwa: Wie kann man die Daten zusammenführen, sodass kein europäisches oder nationales Recht verletzt wird? Wie können öffentliche Stellen auf diesen Daten zugreifen – und welche Stelle ist überhaupt dafür geeignet? „Es war sehr spannend zu sehen, welche Hürden noch auf dem Weg sind, bevor man überhaupt erst zum Überblick einer europäischen Supply-Chain kommen kann“, so Thurner gegenüber Dispo.

Mit am Tisch waren dabei nicht nur Vertreter von europäischen Ländern, sondern etwa auch solche aus der Türkei, Ecuador oder Mexiko. Denn diese Länder seien Beispiele dafür, wie man Daten sehr gut erheben, aufbereiten und zur Verfügung stellen kann. Solche Meetings sind umso wichtiger, weil man erkennt, wo legale oder technische Probleme auftreten könnten – und „damit sich Personen von Institutionen kennenlernen, die es früher oder später es schaffen werden, einen Überblick über die europäische Supply Chain zu schaffen“, erklärt Thurner den Hintergrund des Workshops.

Für das erste Quartal 2024 ist ein weiterer Workshop geplant: „Wenn es so große Schwierigkeiten gibt, über die gängigen Institutionen ins Tun zu kommen - wäre es nicht möglich, zuerst ein wissenschaftliches Projekt daraus zu machen?“, fragt Thurner. Diese Frage soll beim nächsten Treffen diskutiert werden, denn: „Über ein wissenschaftliches Projekt können die verschiedenen Länder vermutlich einfacher kooperieren. Man kann die Ergebnisse dann zwar nicht nutzen, aber man könnte mal zeigen, dass es funktioniert. Ich glaube, das wird viel Optimismus versprühen und vielen Kritikern zeigen: Es geht doch.“

Im weiteren Verlauf müsste man „die logistischen Voraussetzungen schaffen, Gesetze anpassen und die Institutionen mit weiteren Aufgaben versehen. Denn es sei vielen Entscheidungsträgern vollkommen klar, dass es ein strategisches Problem ist, wenn man die Supply Chain nicht kennt – vor allem werde man „unheimlich angreifbar gegenüber anderen Ländern, die aufgrund ihrer eigenen Daten einen Überblick über ihre Supply Chain haben und die öffentliche Hand hat keinen. Das ist schon sehr kritisch, und ich glaube, das ist an vielen Stellen angekommen. Das ist auch mit ein Grund, warum es das ASCII gibt.“

Fraglich sei dabei auch, welche Institution solche Daten erheben sollte. „Das Finanzministerium, die Steuersektion, wäre naheliegend, wenn man die Lieferkette auf Mehrwertsteuerdaten basierend aufbaut. Es kann das Bundesrechenzentrum oder auch die Statistik Austria sein, es könnte die Zentralbank sein. Es gibt verschiedene Player.“ Dabei sei der technische Aufwand recht klein, denn man müsste eine Zahl zusätzlich in der Steuererklärung angeben – und diese Daten seien ohnehin in den meisten Unternehmen vorhanden. „Es ist also ein kleiner technischer und ein kleiner bürokratischer Aufwand, aber die Konsequenzen sind riesengroß“, so der Forscher gegenüber Dispo.

Mit einer solchen europäischen Supply Chain wäre auch das EU-Lieferketten-Gesetz obsolet, meint Thurner. „Es hätte hier kein europäisches Unternehmen mehr bürokratischen Aufwand. Denn wenn irgendwo bei einem Zulieferer eine Menschenrechtsverletzung auftaucht, könnte die Behörde, die die Daten hat, also Unternehmen entlang der Lieferkette warnen, dass es hier ein Problem gibt. Man hätte ein flächendeckendes Bild. Wie das jetzt geplant ist, wird man immer Löcher haben und nicht alles sehen. Und man könnte andere Länder beim Import im Zuge der Zollabrechnung verpflichten, die Lieferketten-Transparenz zu garantieren. Aber das ist ein Aufwand, den die externen Firmen haben, ich muss damit nicht die europäische Volkswirtschaft belasten.“

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Abschließend, auf die Frage, wie viel Zeit noch vergehen wird, bis alle Länder die erforderlichen Daten zumindest erheben, antwortet Stefan Thurner eher pessimistisch: „Das ist zwar kein hübscher Kommentar, aber ich glaube, es wird wohl noch die ein oder andere Supply-Krise brauchen, um wirklich wachgerüttelt zu werden. Vor allem in Zeiten von Krisen, Kriegen, der Umverteilung von Rohstoffflüssen oder der Neurorientierung von Produktionsprozessen wissen wir, dass das notwendig ist. Ich bin aber grundsätzlich optimistisch, dass das Thema nun vorangetrieben wird.“